Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott
sein, und was Kalala fast noch mehr faszinierte: Er hielt eine Harfe in den Händen.
Kalala bedeutete ihrem Diener, sein Ohr zu ihrem Mund zu senken, und sagte: »Geh zu diesem Mann dort und frage ihn, was er für Lieder singt. Wenn er ›Klagelieder‹ sagt, wirf ihn ins Wasser zu den Krokodilen.«
Der Nubier sprang mit einem Satz von der Windsbraut ans Ufer und ging auf den Musiker zu. Als dieser ihn bemerkte, ergriff er die Flucht. Allerdings kam er nicht weit; der Hüne machte drei große Sätze, dann packte er ihn am Gewand. Kalala beobachtete, wie ihr Diener den Mann etwas fragte und dieser daraufhin heftig den Kopf schüttelte.
Beide blickten nun zur Prinzessin. Sie nickte und deutete mit dem gekrümmten Zeigefinger, dass sie an Bord kommen sollten.
Von nahem betrachtet, wirkte der Musiker noch attraktiver.
»Wie heißt du?«, wollte sie wissen.
»El Vis, zu Diensten, Hoheit.«
»El Vis, ein schöner Name. Und woher kommst du?«
»Aus Memphis, Hoheit.«
»El Vis aus Memphis, wie wunderbar. Ich habe schon viel über eure Stadt gehört. Ist sie wirklich so schön?«
»Geht so. Wir haben viele Besucher, wegen der Pyramiden.«
»Und du, werter El Vis, bist du auch nekrophil?«
»Nekro… was?«
»Nekrophil, ein Freund der Toten. Ein Sänger von Klageliedern, ein Meister der düsteren Klänge?« Ein drohender Unterton schwang in Kalalas Stimme.
»Nein, nein. Ganz und gar nicht. Deshalb haben sie mich ja aus Memphis verbannt.«
»Ein verbannter Sänger, wie romantisch«, Kalalas Stimme klang samtweich, lockend. »Was wirft man dir denn vor, junger El Vis?«
»Weltlichkeit. Extreme Weltlichkeit. Und meinen Hüftschwung.«
»Deinen Hüftschwung?«, echote Kalala.
»Ja, die Bewegungen, die ich beim Singen mit der Hüfte mache.«
»Ich bin ganz begierig, dich singen zu hören. Und das mit der Hüfte interessiert mich auch. Willst du mich heute Abend mit deiner Kunst erfreuen?«
El Vis wusste sehr wohl, dass dies keine Frage, sondern ein Befehl war, und zwar einer von der Sorte, der man sich besser nicht widersetzte. Er stimmte zu. Getreu dem alten ägyptischen Musikantenmotto »Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal« fügte er sich in sein Schicksal.
Die Mittagssonne stand schon über dem Lager der Tajarim, als Seshmosis die zweite Niederschrift der sechs Gebote fertig stellte. Die Urschrift knüllte er wütend zusammen und warf sie in einen finsteren Winkel seines Zeltes. Nun war es so weit, er musste vor die Leute treten und ihnen sagen, dass sich Gott ihm offenbart hatte. Allein der Gedanke daran schnürte ihm die Kehle zu. Zuerst wollte er in alter Gewohnheit Imhotep, den Gott der Schreiber, um Beistand bitten, besann sich aber schnell eines Besseren und flehte zu GON:
»Herr, dies ist der wichtigste Augenblick für uns alle. Wenn ich versage, und ich werde sicher versagen, wenn du mir nicht hilfst, werden meine Leute nicht an dich glauben. Schlimmer noch, sie werden mich auslachen und mich nie wieder ernst nehmen. Um deiner selbst willen, steh mir bei, oder du musst dir ein anderes Volk suchen.«
Seshmosis hoffte, dass dieser Appell GON überzeugte, auch wenn ihn das dumpfe Gefühl beschlich, dass ein Gebet irgendwie anders klingen sollte. Aber darauf kam es jetzt nicht an, wichtig war, dass GON ihm beistand.
Zögernd blickte der Schreiber über seine linke Schulter. Und dann über die rechte.
»Bist du da?« Der Zweifel in seiner Stimme war unüberhörbar.
Keine Antwort. Seshmosis seufzte, stand auf und wandte sich zum Zelteingang. Wenn er mich jetzt hängen lässt, bin ich geliefert. Raffim reißt mich vor aller Augen in Stücke.
Noch einmal atmete Seshmosis tief durch und blinzelte in die Sonne.
Vor dem Zelt traf er Shamir, den Bäcker, im Gespräch mit Elimas, dem Hirten.
»Elimas, bitte blase dein Shofarhorn, um die Leute zu rufen. Ich habe etwas Wichtiges mitzuteilen.«
Elimas stieß in sein Horn, und so versammelten sich binnen kurzem alle Tajarim in der Mitte des Lagers.
Seshmosis schwitzte nicht nur wegen der hoch stehenden Sonne. In der linken Hand hielt er die Heilige Rolle.
»Die Kleine Karawane« und den neuen Papyrus mit den Geboten. Mehr noch brachten ihn die erwartungsvollen Gesichter der Tajarim ins Schwitzen.
»Liebe Leute, ich will mich nicht mit langen Vorreden aufhalten. Es ist so weit! Die Prophezeiung hat sich erfüllt!«
Vorsichtig blickte er in die Gesichter in der Menge und versuchte an den Mienen Reaktionen abzulesen. Aber da war nichts,
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