Die Nomadengott-Saga 01 - Der Nomadengott
erscheinst du mir als Ziege?«, fragte der Schreiber fassungslos.
»Ich dachte, es wäre der Situation angemessen. Ich liebe die bildhafte Kommunikation, und so wählte ich eben die Gestalt des Sündenbocks.«
GON schien sehr stolz auf diesen Einfall zu sein.
Seshmosis schluckte hörbar. »Weißt du, ich bin wirklich ein offener, toleranter Mensch. Ich habe absolut nichts gegen Andersartige, ob Menschen oder Götter. Ich bin einer, der bereit ist, mit jedem zu reden. Oder mit allem. Aber es ist für mich sehr gewöhnungsbedürftig, mit Katzen oder Ziegen zu sprechen. Vor allem, wenn sie nicht nur zuhören, sondern auch antworten. Könnten wir uns nicht auf eine einzige Gestalt einigen, in der du zu mir sprichst?«
»Nein.«
»Es würde aber meine Nerven schonen.«
»Nein. Ich denke nicht daran, wegen deiner Überempfindlichkeit die Entfaltung meiner Persönlichkeit einzuschränken.«
»Das heißt, ich muss weiterhin damit rechnen, dass in meinem Zelt dreißig Zentimeter große Katzen, Ziegen, Nilpferde, Krokodile oder was auch immer zu mir sprechen?«
»Korrekt. Du hast es erfasst. Und hüte dich vor dem Tag, an dem ich dir als dein Schatten erscheine!«
Seshmosis schüttelte den Kopf und dachte sich: Der Herr, mein Gott, ist ein sturer Gott.
In der großen Gerichtshalle von Amentet übernahm nun endgültig Isis das Kommando.
Die Götter aus dem Fachbereich »Geburt und Leben« assistierten ihr: Renenutet, die Nährschlange und Göttin der Kinder; der zwergenhafte Bes, Beschützer der Säuglinge; die nilpferdgestaltige Geburtsgöttin Ipet und der widderköpfige Schöpfergott Chnum.
»Wir müssen einen Toten stellvertretend für alle wiedererwecken, auf dass alle in dieser Nacht gestorbenen Erstgeborenen wieder auf Erden wandeln«, sagte Isis. »Bringt mir einen Verstorbenen!«
Zwei Uschebti, die sich ihr Jenseitsleben auch anders vorgestellt hatten, trugen einen Leichnam in die große Halle und legten ihn den Göttern zu Füßen. Es war Snafur.
Der Zufall oder die starke Ausdünstung wollte es, dass die beiden Jenseitsdiener ausgerechnet den Hafenmeister von Sauti ergriffen, damit die Götter ihr großes Werk vollbringen konnten.
Isis blickte auf den Körper und forderte Toth auf: »Sprich die Große Unschuldsbeteuerung, auf dass wir keinen Ungerechten erwecken.«
Und Toth sprach in monotonem Singsang:
O du mit den langen Schritten, der du erscheinet in Iunu; ich bin kein Übeltäter.
O du, der das Feuer hält und in Cheraba erscheinet; ich bin kein Mann der Gewalt.
O du mit der Nase, der du in Ba’c’h erscheinest; ich habe keinen bösen Sinn.
O Esser des Schattens, der in Syene erscheinet; ich bin nicht habgierig.
O du grimmig blickender Gott, der in Rosetau erscheinest; ich bin kein Totschläger.
O du Löwengestaltiger, der du im Himmel erscheinest; ich betrüge nicht mit dem Kornmaß.
O du, dessen Augen scharf sind wie Schwerter, der du in Iunit Senet erscheinest; ich verübe keinen Betrug.
O du mit dem Feuerantlitz, der sich rückwärts beweget; ich raube keinen geheiligten Besitz.
O Knochenbrecher, der in Henen Nesu erscheinet; ich bin kein Lügner.
O du, der über die Flamme gebietet und in Memphis erscheinet; ich raube keine Nahrung.
O du von den Zwei Höhlen, der du in Amentet erscheinest; ich bin nicht müßig.
O du mit den Leuchtenden Zähnen, der im Unsichtbaren Lande erscheinet; ich bin kein Lästerer.
O Bluttrinker, der du am Schlachtblock erscheinest; ich habe keine heiligen Tiere geschlachtet.
O Leberesser, der am Hof der Dreißig erscheinet; ich mache keine betrügerischen Geschäfte.
O Herr der Rechtschaffenheit, der du an der Stätte der Beiden Maat erscheinest; ich bin kein Landraffer.
O du, der du den Rücken wendest und in Bast erscheinest; ich bin kein heimlicher Lauscher.
O Bleicher, der du in Iunu erscheinest; ich habe keine böse Zunge.
O Viper, die du in Busiris erscheinest; ich kümmere mich nur um meine eigenen Angelegenheiten.
O Schlange, die am Block erscheinet; ich begehe nicht Ehebruch mit eines anderen Weib.
O Seher, der im Haus des Min erscheinet; ich bin mit niemandem unkeusch.
O du, der du über all den Fürsten stehest und der du in Imu erscheinest; ich verursache keinen Schrecken.
O Angreifer, der in Kauu erscheinet; ich bin kein Lästerer.
O du, der du deine Stimme erhebest und in Wryt erscheinest; ich führe keine hitzigen Reden.
O göttliches Kind, das in Bast erscheinet; ich verschließe nicht mein Ohr der Gerechtigkeit.
O
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