Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
auf.
Vier Dienerinnen nahmen die Tajarim in Empfang und führten sie in eine festlich geschmückte Halle. Darin stand eine lange Tafel, gesäumt von thronartigen Sesseln mit purpurnen Kissen und Lehnen. Vier nymphengleiche Frauen hießen sie Platz nehmen und servierten Essen auf goldenen Platten und in goldenen Körben. Dazu reichten sie honigartigen Wein in silbernen Bechern.
Seshmosis kam sich vor wie in einem Traum. Selbst am Hofe des Pharao konnte es nicht prunkvoller zugehen.
Dann erschien endlich die Herrin des Hauses. Kirke trug ein smaragdgrünes Kleid aus feinstem Stoff aus den Ländern jenseits von Babylon. Darauf war ein seltsames Wesen gestickt, das aussah wie eine geflügelte Echse, die Feuer spie.
Kirke begrüßte ihre Gäste freundlich und forderte sie auf, sich an den Speisen und Getränken zu laben. Sie selbst nahm nichts zu sich und musterte stattdessen lange jeden Einzelnen. Schließlich blieb ihr Blick an El Vis hängen.
Auf einmal begann Kirke zu singen, und es war der gleiche wunderbare Gesang, den sie schon draußen gehört hatten. Aber diesmal galt der magische Klang ihrer Stimme nur einer einzigen Person im Raum – El Vis. Wie von einem Zauber erfasst, erhob sich der Sänger und fiel in Kirkes Gesang ein. Die beiden Stimmen verschmolzen ineinander zu einer Melodie von unbeschreiblicher Innigkeit und Harmonie. Die Gäste unterbrachen das Essen und lauschten der wunderbaren Musik. Nur Kalala warf El Vis giftige Blicke zu. Es war eindeutig, Kirke bezirzte El Vis.
Von Eifersucht überwältigt, sprang die Prinzessin auf und schrie: »Was singst du dieses zauberische Weib an? Merkst du denn nicht, dass sie dich um den Finger wickeln will?«
El Vis hielt überrascht in seinem Gesang inne. Kirke schaute Kalala mit blitzenden Augen an wie eine Raubkatze kurz vor dem Sprung.
Inzwischen hatte auch der letzte Gast in der Halle bemerkt, dass etwas Bedrohliches vor sich ging.
Die Dienerinnen versteckten sich ängstlich hinter Säulen. Seshmosis hielt den Atem an.
»Gefällt dir etwa der Gesang nicht, schwarze Prinzessin?«, fragte Kirke lauernd.
»Der Gesang gefällt mir wohl«, entgegnete Kalala kühl. »Allein die Besetzung des Duetts behagt mir nicht.«
»Betrachte dies als Intermezzo bei Tisch als Musik, flüchtig wie der Schall, der nur noch kurz als Echo existiert. Es diente der Unterhaltung, mehr nicht.«
Ein hörbares Aufatmen ging durch die Runde, und die Tajarim widmeten sich wieder genüsslich dem üppigen Mahl.
Kalala beruhigte sich, nur das Lodern in ihren Augen verriet, dass sie wachsam blieb. Die Prinzessin von Gebel Abjad, die schwarze Perle Nubiens, hatte ihre Krallen immer noch in Bereitschaft.
Als der letzte Gang serviert und das Geschirr abgetragen war, erhob sich Kirke und sprach zu ihren Gästen:
»Jeden, der Aiaia betritt, hat das Schicksal hierhergebracht. Denn wer meine Insel finden will, wird ein Leben lang vergebens suchen. So sind alle, die zu mir kommen, meine Gäste. Lasst mich nun das Orakel befragen, was euch zu mir geführt hat.«
Mit diesen Worten warf die Zauberin ein Bündel Kräuter in ein Becken mit glühenden Kohlen auf einem Dreifuß.
Weißer Rauch stieg empor und formte sich zu Wolken, die Schafen glichen. Konzentriert blickte Kirke in das Gebilde und verscheuchte schließlich mit einer Handbewegung die letzten Rauchfetzen. Dann wandte sie sich wieder ihren Gästen zu:
»Das Orakel hat gesprochen. Das Festmahl ist damit beendet. Ihr könnt nun zu eurem Schiff zurückkehren. Den Seher, den Schreiber, den Blinden und den Knaben bitte ich jedoch noch zu bleiben.«
Worte des Dankes murmelnd, erhoben sich die Tajarim und verließen die Halle. Gespannt wartete Seshmosis, was nun kommen würde.
»An manchen Tagen offenbart sich ein wenig von dem unerfindlichen Ratschluss der Götter«, verkündete Kirke. »Vor allem, wenn es um Menschen mit besonderen Talenten oder ungewöhnlichen Schicksalen geht.«
Aus den Augenwinkeln beobachtete Seshmosis Skamandnos, doch der Junge wirkte unbeteiligt wie immer.
Kirke gab einer Dienerin einen Wink, die daraufhin einen Becher brachte. In diesen goss die Zauberin etwas Wein, den sie mit Wasser verdünnte. Dann streute sie aus einem kleinen Flakon ein Pulver hinein und verrührte es mit einem langstieligen Löffel.
»Trink, Knabe!«, sagte sie und reichte Skamandrios den Becher. »Trink alles!«
Der Junge leerte ihn in einem Zug, dann schaute er Kirke fragend an.
»Dein Schweigen ist nicht mehr lange vonnöten.
Weitere Kostenlose Bücher