Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
wertvollen Inhalt, war der Schlauch doch mit einer silbernen Schnur verschlossen.
Das Märchen von den Winden erzählte Seshmosis sicher nur, weil er seine Reichtümer nicht mit den anderen teilen wollte. Die Behauptung, dass nur er den Sack öffnen dürfe, war für Barsil denn auch der Beweis für seine Vermutung.
So schlich er sich in der Überzeugung, reiche Beute zu machen, nach Einbruch der Nacht zum Mast und nestelte ungeduldig an der Schnur. Kaum hatte er in seiner Gier den Knoten ein wenig gelockert, sausten mit einem Mal alle Winde heraus.
Barsil wurde von der Kraft der befreiten Stürme in weitem Bogen bis zum Heck geschleudert. Euros schmetterte von Osten her gegen das Segel und riss es in Fetzen, Boreas und Notos prallten von Norden und Süden aufeinander, wühlten das Meer rund um das Schiff auf und türmten es zu riesigen Wogen. Und Zephyros, der Sturm aus dem Westen, war es schließlich, der die Hälfte der Ruder zersplitterte.
Das Tosen der entfesselten Stürme riss die phönizischen Seeleute ebenso aus dem Schlaf wie die Tajarim. Panik brach auf der Gublas Stolz aus. Das Toben des Orkans mischte sich mit dem Geräusch von berstendem Holz. Erst als ein Feuerwirbel das Schiff mehrfach umkreiste, beruhigte sich der Sturm und flaute ab. Schließlich trieb die Gublas Stolz in spiegelglattem, ruhigem Wasser. Nur vereinzelte Schmerzensschreie kündeten noch von der eben überstandenen Katastrophe.
In dieser Nacht sehnte sich Seshmosis das erste Mal nicht nach Byblos zurück, sondern nach seiner Heimatstadt Theben, fernab vom Meer. Er wollte einfach keine Stürme mehr erleben und erinnerte sich an das beruhigende Plätschern des Nils. Gut, es gab einmal im Jahr eine große Überschwemmung, die fast immer seine Schreibstube unter Wasser gesetzt hatte. Außerdem gab es da Milliarden von Stechmücken. Aber diese Plage war immer noch besser als die fürchterlichen, nicht enden wollenden Stürme auf hoher See. Er fühlte sich so verloren und ausgeliefert.
*
Bei Tagesanbruch bot die Gublas Stolz ein Bild des Jammers. Das einstmals wahrhaft stolze Schiff war schwer beschädigt. Uartu lief sorgenvoll vom Bug zum Heck und wieder zurück.
»Wir müssen unbedingt einen Hafen finden, wo wir die notwendigen Reparaturen ausführen können. Zum Glück sind uns ein paar Ruder geblieben, doch das Steuer ist nur bedingt einsatzfähig. Hoffen wir auf die Gnade der Götter und eine günstige Strömung!«
Die Götter ließen sich Zeit. Der Tag verstrich ebenso eintönig wie die folgende Nacht. Zumindest konnte Uartu am Stand der Gestirne feststellen, dass sie sich Richtung Süden bewegten. Allerdings sagten ihm die Sterne auch, dass das Schiff ganz woanders war, als es sein sollte.
Gegen Mittag erhoben sich aus der Wasserwüste endlich die Umrisse einer Insel. Mit viel Mühe gelang es, die Gublas Stolz auf Kurs zu bringen. Erleichtert vernahm Seshmosis das laute Knirschen, als das Schiff endlich wieder auf einen Strand auflief.
Es war eine liebliche, fruchtbare Insel mit Bäumen. Freudig gingen die Tajarim von Bord. Sie waren froh, festen Boden unter den Füßen zu haben. Schnell war ein Lager aufgeschlagen, und Uartu wollte sich sofort mit seinen Leuten um die Reparatur des Schiffes kümmern, während die Tajarim für Verpflegung sorgen sollten.
Die Gruppe der Jäger bestand aus den drei Dienern Raffims, Mumal und Almak, die Gruppe der Sammler aus Seshmosis, Elimas, Elihofni und Aruel. Um Jagdunfälle zu vermeiden, schwärmten die einen nach links, die anderen nach rechts aus.
In Gedanken versunken, zupfte Seshmosis an einem Busch Beeren, als ihn jemand von hinten anstieß. Langsam drehte er sich um in der Erwartung, einen Gefährten zu sehen. Doch da war kein Mensch. Da war ein Löwe.
Ein mächtiges Tier mit prachtvoller Mähne stand vor dem kreidebleichen Schreiber. Plötzlich öffnete der Löwe sein Maul, streckte die Zunge heraus und leckte Seshmosis die Hand.
Ich träume, redete der sich ein. Es ist alles nur ein Traum. Meine Sehnsucht nach Ägypten spielt mir einen Streich.
Doch die große Raubkatze ließ sich nicht wegerklären und leckte ruhig weiter seine Hand. Zaghaft legte Seshmosis seine andere Hand auf die Mähne und begann das Tier vorsichtig zu kraulen. Der Löwe rieb sich genüsslich an ihm und warf ihn dabei fast um.
»Entweder bist du eine Gottheit oder ein verzauberter Mensch«, flüsterte Seshmosis. »Ebenso wie die anderen beiden, die sich gerade nähern, und das Wolfsrudel, das
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