Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
Fremden lediglich ins Gesicht zu schauen, während er sie misstrauisch fragte: »Wo kommst du denn auf einmal her? Und was willst du von meinen Kühen?«
»Von deinen Kühen will ich nichts, und woher ich komme, weiß ich selbst nicht. Vielleicht kannst du mir helfen?«
Die Verwirrtheit der Frau machte Henenu mutiger, und er betrachtete sie nun doch genauer. Diese Frau war gewiss keine Sklavin und auch keine Magd, sie schien etwas ganz Besonderes zu sein.
Er senkte den Blick zu Boden, nicht ohne ihn vorher über ihre Weiblichkeit schweifen zu lassen. Dann ging er zu seinem Lager, nahm die Decke heraus, mit der er sich des Nachts immer wärmte, und reichte sie der Fremden, damit sie sich darin einhüllen konnte.
»Wie heißt du?«, wollte der Hirte wissen.
Hathor überlegte kurz, dann schüttelte sie traurig den Kopf. Nicht einmal an ihren eigenen Namen konnte sie sich erinnern.
»Lass uns in die Stadt gehen!«, schlug Henenu vor. »Die Priesterinnen im Hathor-Tempel können dir sicher helfen.«
Wortlos folgte Hathor dem Hirten, und zwanzig Kühe trotteten den beiden hinterher.
*
Edfu lag südlich von Theben, auf halber Strecke nach Elephantine am ersten Katarakt. Nahe am Fluss erbaut, wo das Ufer schnell anstieg, blieb der Ort von den Nilüberschwemmungen unberührt und gehörte doch zur fruchtbaren Zone vor der Wüste. Also ein idealer, uralter Siedlungsplatz.
Auf dem Marktplatz von Edfu saß ein etwas blasser, nackter junger Mann und starrte gebannt auf das Treiben um ihn herum. Falken umkreisten ihn, andere hockten zu seinen Füßen, einer sogar auf seiner Schulter. Die Menschen – Händler und Kunden – wurden bald auf den seltsamen Fremden aufmerksam. In Edfu schätzte man Falken über alles, denn der hiesige Tempel beherbergte das Hauptheiligtum des Gottes Horus.
Ein Mann, der von Falken geliebt wurde, wurde bestimmt auch von Horus geliebt, trotz seiner Nacktheit, da waren sich die Menschen ganz sicher. Das Auftauchen des sonderbaren Fremdlings machte schnell die Runde, und so erreichte die Kunde von ihm auch bald den Oberpriester Horhernecht, dessen Name ›Horus ist stark‹ bedeutete. Der schickte seine Tempelwache aus, den Falken-Mann zu ihm zu bringen.
So kam es, dass kurz darauf Horus den ihm geweihten, gigantischen Tempel betrat, gefolgt von einem ganzen Schwarm Falken, nicht wissend, dass er selbst der Gott dieses Heiligtums war.
Staunend sah er sich um. Jede einzelne Säule berichtete von den Heldentaten des göttlichen Falken, nur dass dieser keine Hieroglyphen lesen konnte. Aber dazu brauchte es keinen Fluss des Vergessens, das war gottbedingt, außer bei Thot.
Beeindruckt folgte Horus dem Oberpriester durch zahllose Gänge, jeder davon so hoch, dass man mehr als zehn Männer übereinander stellen musste, um die Decke zu erreichen. Horhernecht warf dem jungen Mann immer wieder misstrauische Blicke zu. Noch konnte er dessen plötzliches und ungewöhnliches Erscheinen nicht einordnen. Vor allem der Falkenschwarm irritierte ihn über die Maßen. Heiligkeit war sein Fachgebiet, und er hasste es, wenn sich Amateure einmischten.
*
Unzählige Fackeln erleuchteten den nächtlichen Garten des Palasts von Kalala. Es galt, Abschied zu nehmen und diesen mit einem Fest zu feiern. Viele Tajarim, aber auch neue Freunde aus Byblos, waren in der lauen Frühlingsnacht der Einladung gefolgt, um sich zu amüsieren und um Lebewohl zu sagen. Kalalas Küchenpersonal bot hundertundeine Köstlichkeit an, und der Kellermeister servierte edelste Tropfen aus Kanaan. Kalala ging durch die Menge, begrüßte alle Gäste freundlich, wobei sie ihr Lieblingssklave und Leibwächter Tafa begleitete und nie aus den Augen ließ. Der hünenhafte, dunkelhäutige Nubier sorgte allein durch seine körperliche Präsenz für Sicherheit. Nach einem ausgiebigen Rundgang kehrten die beiden ins Haus zurück.
El Vis, der Sänger aus Memphis, bereitete sich mit seinen Musikern für den großen Auftritt vor. Seit zwei Jahren arbeitete er nun schon an seinem neuen Programm, und er freute sich, die Lieder bei der Tournee auf den vielen Inseln des großen Meeres zum Besten zu geben.
Auf der zum Garten gewandten Terrasse stellte Mumal seine beiden großen Trommeln auf, und Elimas putzte noch einmal sein Shofarhorn. Die beiden würden El Vis auch auf der Tournee musikalisch begleiten.
Kalala und Tafa betraten die Terrasse, und der Nubier lud die Gäste mit seiner gewaltigen Stimme zum Konzert.
Dann sprach Kalala zum
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