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Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer

Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer

Titel: Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Scherm
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als bekleidet. Dennoch empfand sie keine Scham, sich derart freizügig dem Volk zu zeigen. Im Gegenteil, sie fühlte sich sogar sehr wohl.
    Selbstbewusst blickte die Göttin, die ihre Göttlichkeit vergessen hatte, zu den jubelnden Menschen, die das Ufer säumten. Sie genoss die leidenschaftliche Verehrung der Menschen, konnte sich den Grund dafür aber nicht erklären.
    Die Hohepriesterin Hatemhat blickte vom Bug des Schiffs aufs Wasser, und ihre Gedanken schweiften über die Wellen voraus nach Edfu, dem Ziel der Prozession. Dort würde die Personifikation der Hathor auf die des Horus treffen und die Heilige Vereinigung begehen.
    Der Name der Hohepriesterin ›Hatemhat‹ bedeutete ›Hathor ist an der Spitze‹, und das war auch ihre Überzeugung. Keine andere Gottheit verehrte sie so sehr wie Hathor.
    Hatemhat war sich sicher, dass Horhernecht, der Oberpriester des Horus in Edfu, erstaunt sein würde, welch außergewöhnliche Hathor sie in diesem Jahr präsentieren konnte. Triumph blitzte in den Augen der Priesterin. Seit Jahren bestand zwischen beiden mehr als ein sportlicher Wettstreit, wer die überzeugenderen Götterdarsteller aufbot. Von einer gelungenen Vorstellung profitierten die Tempel auch direkt. Bei diesem Ritual pflegte das Volk eine überzeugende Darstellung zu würdigen, und so floss entsprechend mehr Geld in die Kasse, je besser die Darbietung war.
    Nach der Hochzeitsnacht der Götter begann das eigentliche Fest, und das dauerte die gesamten vierzehn Tage des zunehmenden Mondes. Vierzehn Tage mit einer unablässigen Abfolge von Zeremonien, Opferungen, Tempelbesuchen, Gedenkfeiern, Ritualen und vor allem für die Priesterschaft einträglichen Spenden der Gläubigen für die Tempel.
    Hatemhat lächelte. In diesem Jahr hatte Horhernecht keine Chance. Eine überzeugendere Gottpersonifikation wie ihre Hathor gab es in ganz Ober- und Unterägypten nicht.
     
    *
     
    Der Horustempel von Edfu war von beeindruckender Größe. Die mit reichen Reliefs verzierte Hauptfassade ragte hoch in den Himmel und zeigte Szenen aus dem Kampf von Horus gegen seinen Feind Seth und den Sieg des Falkengottes. Im Innern des Tempels erwartete den Besucher nicht nur eine imposante Architektur, sondern auch eine dramatische Lichtführung. Diese rief bei den Gläubigen starke Gefühle hervor. Einige Räume lagen völlig im Dunkeln, andere erhielten ein wenig Licht aus den Säulenhallen oder von Öffnungen in der Decke. Alle Wände zeigten in farbenfroher Bemalung Episoden aus Horus' göttlichem Leben. Im Allerheiligsten stand eine riesige, aus einem Block gearbeitete Falkenstatue des Gottes aus Syenit. Dieser harte, auf Hochglanz polierte Stein aus dem Sinai zeigte eine wunderschöne Sprenkelung mit hellen Flecken auf dunklem Grund.
    Horhernecht rieb sich siegessicher die Hände. Einen besseren Horus hatte es seit Menschengedenken nicht gegeben. Der junge Mann war wirklich die Verkörperung des Gottes. Nicht nur, weil ihn auf Schritt und Tritt mindestens ein Dutzend Falken begleitete; auch in seinem ganzen Auftreten schien er nicht von dieser Welt. Keiner der Priester, nicht einmal Horhernecht, konnte dem durchdringenden Blick des Namenlosen standhalten.
    Dabei verhielt sich der Unbekannte keineswegs aggressiv, im Gegenteil wirkte er eher apathisch und desorientiert. Dennoch ging von ihm eine eigenartige, fast erhabene Ausstrahlung aus. Inzwischen hatte man dem Fremden ohne Gedächtnis den Namen Horusanch gegeben, was ›Horus lebt‹ bedeutete. Willig, aber ohne große Anteilnahme, befolgte er alle Anweisungen. Doch seine Augen nahmen alles wahr, und er registrierte die kleinste Kleinigkeit, die in seiner Umgebung vor sich ging. Horhernecht fand den Fremden fast unheimlich und daher genau richtig für diese Rolle. Sein Horus würde die Feierlichkeiten überstrahlen, egal wie schön und erotisch die Hathor-Darstellerin von Hatemhat in diesem Jahr auch sein mochte.
    Der Priester beobachtete die Einkleidung des jungen Mannes. Wobei Einkleidung eine ziemliche Übertreibung war, denn Horusanch trug lediglich einen reich bestickten Lendenschurz und einen goldenen Stirnreif. Obwohl sich immer wieder Falken auf seinen nackten Schultern niederließen, verursachten ihre Krallen nicht den kleinsten Kratzer in der Haut. Auch jetzt saß wieder einer der Greifvögel auf der Schulter des sonderbaren Fremdlings.
    Nach dem Einkleiden führte man Horusanch vor den großen Tempel, von wo aus ihn eine Prozession zu einem kleineren Tempel direkt am

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