Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
ein.
Plötzlich riss Aram ein gellender Pfeifton aus seinem wunderschönen Traum. Erschrocken schaute er sich um. Hinter ihm stand der Flötenspieler.
»Ich grüße dich, Aram, Hüter des Goldenen Kalbes.«
»Ich grüße Euch, Fremder, der Ihr so wunderbar auf Eurer Flöte spielt!«
»Der Fremde bist wohl du, denn ich bin hier zu Hause. Mein Name ist Pan, und dort oben, in der Idäischen Grotte, gebar mich meine Mutter Almathea. Hier ist meine Heimat!«
»Verzeiht, Ihr habt Recht, der Fremde bin wirklich ich. Ein seltsames Geschick und die Launen der Götter führten mich von Ägypten über das ›Reich der Toten‹ hierher«, erklärte Aram.
»Ja, ja, die Launen der Götter, ich kenne sie nur zu gut. Wie oft schon half ich meinem Milchbruder Zeus, den die gleiche Zitze nährte wie mich, aus großer Not. Ohne mich hätte er nie den schrecklichen Drachen Typhon mit seinen hundert Feuer speienden Köpfen besiegt. Ohne mich wäre er auch im Kampf gegen die Titanen unterlegen. Doch was ist mein Lohn? Dass man mich vom Tisch der Götter verbannte und mich auslacht und verhöhnt. O ja, ich kenne den Undank der Götter und bin doch selbst einer!«
Wütend stampfte Pan dabei mit einem Ziegenhuf so mächtig auf den Boden, dass Funken sprühten und sich ein glühender Hufabdruck im Felsen zeigte. Aram wich ängstlich zurück.
»Fürchte dich nicht, meine Wut richtet sich nicht gegen dich!«, beruhigte ihn der Gott. »Berichte mir nun von dir und deinem göttlichen Tier, damit ich weiß, wer Gast in meiner Heimat ist.«
*
Ariadne, die schöne Königstochter, führte die Tajarim zum Theaterareal in den nördlichen Palastbereich. In kurzem Abstand folgte ihnen eine neugierige Schar von Kindern und Heranwachsenden. Seshmosis beäugte sie mit gemischten Gefühlen. In Byblos waren ihm nämlich Gerüchte zu Ohren gekommen, dass es in Knossos nicht mit rechten Dingen zuging. Angeblich mussten die Athener alle neun Jahre sieben Knaben und sieben Mädchen nach Kreta schicken, wo sie einem Untier namens Minotaurus zum Fraß vorgeworfen wurden.
Verunsichert wandte sich Seshmosis an Ariadne: »Die Kinder, woher kommen sie und was tun sie hier?«
»Du meinst unsere Zöglinge? Sie kommen aus den Fürstenfamilien der achäischen Stadtstaaten und der Inseln. Im Alter von sieben Jahren bringt man sie hierher, und wir bilden sie neun Jahre lang aus. Sie lernen bei uns alles, was zu einem zivilisierten Leben gehört – Lesen und Schreiben, Lyra und Flöte spielen, Sport und Tanz, wie man ein Haus entwirft, ein Bild malt und wie man höflich miteinander umgeht.«
Die Prinzessin faszinierte Seshmosis so sehr, dass es ihm schwer fiel, sich auf ihre Antwort zu konzentrieren. Bewundernd betrachtete er Ariadne von der Seite.
Während El Vis mit seinen Musikern und Kalala das lang gestreckte Rechteck des Freilufttheaters besichtigten, setzten sich Ariadne und Seshmosis nebeneinander auf die Steinstufen der Zuschauertribüne. So nahe war der Schreiber einer begehrenswerten Frau schon lange nicht mehr gewesen, und wohlige Schauer durchströmten ihn. Um sich abzulenken, sagte er: »Ich habe von einem Untier namens Minotaurus gehört, das hier in einem Labyrinth leben soll. Das ist doch sicher nur ein böswilliges Gerücht?«
»Ach, du meinst die Geschichte von meinem Halbbruder Asterion, den alle Welt ›Minotaurus‹ nennt.« Ariadne lachte.
Seshmosis fragte sich, was daran lustig sei, ein weltbekanntes, blutrünstiges Scheusal als Halbbruder zu haben, doch die Prinzessin fuhr fort.
»Das ist eine lange Geschichte, willst du sie hören?«
Seshmosis wollte. Er hätte sich sogar die Liste aller kretischen Steuerzahler angehört, so lange Ariadne so nah beim ihm saß.
»Der letzte Minos war kinderlos und nahm deshalb meinen Vater an Sohnes statt an. Dieser heiratete schon in jungen Jahren meine Mutter Pasiphae, und als der alte Minos starb, wollte natürlich mein Vater die Herrschaft über Kreta antreten. Allerdings gab es zwei weitere Fürsten auf unserer Insel, die ebenfalls König werden wollten – Sarpedon von Mallia und Rhadamanthys von Phaistos. Mein Vater behauptete nun, er sei von den Göttern persönlich auserwählt worden, weil diese ihm jeden Wunsch erfüllten. Als Beweis hielt er ein Fest zu Ehren von Poseidon und bat diesen um einen Stier aus den Tiefen des Meeres, um ihn dann als Opfer darzubringen. Und wahrhaftig, Poseidon sandte einen prächtigen weißen Stier. Das Volk brach in Begeisterungsstürme aus, und
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