Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
soll ich das anstellen? Ich bin doch dazu verurteilt, auf immer beim Goldenen Kalb zu bleiben.«
»Der Weg nach Knossos ist nicht weit, ein Tagesmarsch nur. Und ich werde so lange bei deinem Stierlein bleiben. Es hört auf mich, wie du gemerkt hast.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Ich bin noch nie so weit zu Fuß gegangen.«
»Körperlich gesehen bist du tot, Aram, mausetot! Du musst weder essen noch trinken und auch nicht schlafen. Du schläfst nur noch aus reiner Gewohnheit.«
»Ich schlafe aber gern!«, wandte Aram ein.
»Ja, sicher, aber du müsstest es nicht tun. Du könntest Tag und Nacht rennen, ohne müde zu werden. Wenn es sein müsste, wochenlang.«
Aram war verblüfft. Diese Vorteile seiner neuen Existenzform waren ihm neu. Sein Widerstand erlahmte.
»Würdet Ihr wirklich gut auf das Kalb aufpassen? Ich fürchte den Zorn der ägyptischen Götter und noch mehr die Zähne der ›Großen Verschlingerin‹ von Amentet.«
»Sei beruhigt! Du bist ein guter Hirte, Aram, und ich werde dich bestens vertreten. Doch nun eile zu deinem Freund Seshmosis und warne ihn. Er soll Kreta so schnell wie möglich verlassen. Eile, mein Freund, eile!«
*
Seshmosis spazierte durch den weitläufigen Palastpark und gelangte zu einem ungewöhnlichen Platz. Zuerst dachte er, dies sei ein weiteres Theater, doch dann erkannte er, dass es sich um einen Kultplatz handeln musste. Wie in Trance bewegten sich einige junge Frauen, sich an den Händen haltend, in einer Art Reigentanz. Die Frau an der Spitze der Formation war Ariadne. Am Rande des Tanzplatzes saßen drei Männer, und als Seshmosis sich ihnen näherte, erkannte er, dass es der Minos und sein Sohn Glaukos waren. Der dritte – ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren – war ihm fremd. Mit angemessenem Respekt ging er auf sie zu und verbeugte sich ehrfürchtig. Der König bat ihn, Platz zu nehmen. Aufmerksam beobachteten sie nun zusammen den Tanz der Frauen, der in einem Kreis endete.
Ariadne sprach noch einige Worte mit den Tänzerinnen, dann kam sie zu ihnen herüber.
Sie läuft nicht, sie schwebt. Sie ist eine Göttin, dachte sich Seshmosis. Als ihn Ariadne unverhofft ansprach, zuckte er zusammen.
»Darf ich dir Theseus vorstellen? Er ist der Sohn von König Ägeus von Athen und hat wieder einige Kinder zu uns gebracht. Theseus wurde übrigens bis vor wenigen Jahren ebenfalls hier ausgebildet, und seither sind wir gut befreundet.«
Dann umarmte sie Theseus. Seshmosis spürte einen schmerzhaften Stich in seiner Brust. Der Athener war ihm absolut unsympathisch. Er mochte keine Männer, die Frauen mochten, die er mochte. Doch bevor er sich weiter in seine Abneigung gegen den jungen Mann steigerte, sprach ihn der Minos an.
»Kommst du mit deinen Studien voran, werter Seshmosis?«
»Ehrlich gesagt, überhaupt nicht. Ich traf noch keinen, der mir bezüglich der alten Schrift helfen konnte. Alle Aufzeichnungen scheinen verschollen. Außerdem gibt es für mich hier so viel Neues und Aufregendes zu entdecken, dass mein Interesse für die alte Schrift etwas in den Hintergrund gerückt ist.«
Während Seshmosis zum König sprach, verließen Ariadne und Theseus Hand in Hand den Tanzplatz und verschwanden im Park. Auch Glaukos entfernte sich.
Seshmosis übermannte die Eifersucht, dennoch versuchte er, sich auf seinen Gesprächspartner zu konzentrieren, so schwer es ihm auch fiel. Vor allem, um sich selbst abzulenken, sagte er: »Mich berührt die Geschichte Eures Landes sehr, edler Minos. Allenthalben erzählt man sich von Ägypten bis nach Kanaan faszinierende Legenden. Die Götter nehmen wohl großen Anteil am Geschehen auf Kreta. Man sagt, Ihr sprecht mit Zeus persönlich.«
Der König sah Seshmosis nachdenklich an und erkannte die Neugier des Forschers in dessen Gesichtszügen.
»Das stimmt, junger Mann«, sagte er schließlich. »Es gibt wahrlich Menschen, denen die Gnade zuteil wird, direkt mit Göttern zu reden.«
Wie Recht du hast, dachte sich Seshmosis und hatte dabei GON vor seinem inneren Auge.
Der König fuhr fort: »Alle sieben Jahre gehe ich ins Gebirge zur Idäischen Grotte, in der Zeus aufwuchs, um mich mit ihm zu treffen. Ich muss allein hinaufsteigen, und nur ich darf die Grotte betreten. Der Weg dorthin wird mir immer beschwerlicher, aber der Brauch verlangt es.«
»Verzeiht meine Neugier, edler Minos, aber worüber sprecht Ihr mit dem Gott?«
»Ja, worüber sprechen wir eigentlich? Zeus sagt nie viel. Es ist mehr ein beredetes
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