Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
ungewöhnliche Vögel aus dem Labyrinth von Knossos und flogen mit kräftigen Flügelschlägen gen Norden.
*
Ein schwarzer kretischer Segler, der vor nicht allzu langer Zeit noch im Hafen von Byblos gelegen hatte, stach von Amnissos aus ziemlich eilig in See. Am Bug standen Theseus, Katreus, Nelos und Pelos.
»Ich bin zuversichtlich! Nach meinem Sieg über den Minotaurus wird Athen von Kreta die Vorherrschaft über das Meer übernehmen«, prahlte Theseus.
»Dein Sieg über den Minotaurus?«, fragte Nelos hämisch. »Habe ich irgendetwas verpasst? Das letzte Mal, als ich den Minotaurus sah, nahm er dich gerade auf die Hörner und knallte dich gegen die Wand.«
»Das ist doch völlig egal«, wehrte der Athener ab. »Es zählt nur das, was die Menschen für wahr halten. Die Realität spielt überhaupt keine Rolle. Ich bin aus dem Labyrinth zurückkehrt, und der Minotaurus ist verschwunden. Also ist meine Version der Geschichte die Wahrheit. Außerdem brauchen die Menschen Helden.«
»Dann hast du meinen Bruder gar nicht erschlagen?«, fragte plötzlich eine weibliche Stimme. Ariadne, die sich als blinder Passagier an Bord geschlichen hatte, kroch aus ihrem Versteck.
»Ariadne! Was willst du denn hier?«, rief Theseus erschrocken.
»Ich will bei dir sein! Ich will mit meinem geliebten Verlobten in seine Heimat segeln und ihn dort heiraten. Ich will mit ihm mein Leben lang glücklich sein!«
Theseus wandte sich wortlos von Ariadne ab und schaute aufs Meer hinaus. Die Prinzessin starrte ihn beunruhigt an. Eine Ahnung, die sie nicht wahrhaben wollte, stieg in ihr auf. Dann schrie sie Theseus an: »So sprich doch mit mir! Was ist los mit dir?«
Langsam drehte sich Theseus um und antwortete trocken: »Aus der Hochzeit wird nichts.«
»Aber warum? Wir lieben uns doch!«
»Ich habe dich niemals geliebt. Ich wollte nicht dich, ich wollte immer nur Kreta.«
»Du hast mich schamlos ausgenützt, du Schuft!«
»Ja. Manchmal ist es notwendig, eine Verbindung aus politischen Gründen einzugehen. Aber die Situation hat sich geändert, und du bist nun überflüssig. Ich kehre als Held nach Athen zurück und werde der Nachfolger meines Vaters.«
Ariadnes Finger krallten sich um die Reling, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Doch es waren nicht Tränen der Trauer, sondern Tränen der Wut. Trotzig sagte sie: »Wenigstens konntest du meinen Bruder nicht töten.«
»Das ist richtig. Aber das wird dir keiner glauben«, entgegnete Theseus, gab Nelos einen Wink und ließ Ariadne stehen.
Als das Schiff kurz darauf die nahe vor Kreta gelegene Insel Dia passierte, fragte Nelos die Prinzessin wie beiläufig:
»Kannst du schwimmen?«
»Ja, warum?«
»Weil du gleich schwimmen wirst«, sagte Pelos, riss Ariadne mit einem Ruck das Kleid vom Leib und warf sie über Bord.
*
Asterion blickte vom Hügel zum Palast hinüber und nahm stumm Abschied. Sein ganzes bisheriges Leben hatte er dort verbracht und keine einzige Stunde davon in Freiheit. Bedächtig nahm er die Kette mit dem Heiligen Amulett von Phaistos ab und reichte sie Seshmosis.
»Bitte bring das Amulett Glaukos. Er ist der rechtmäßige Nachfolger des Minos«, bat er den Schreiber. »Ich selbst werde mich mit Aram in die Einsamkeit der Berge zurückziehen.«
Ehrfürchtig steckte Seshmosis das Amulett in sein Gewand. Zum Abschied umarmte er Aram. Zögernd ging er auf Asterion zu, umarmte auch ihn und legte dabei seinen Kopf auf dessen bepelzte Brust. Eine ungewöhnliche Wärme strömte von Asterion zu Seshmosis, mehr Wärme, als er je bei einem Menschen verspürt hatte.
Schweigend brach das ungleiche Paar auf. Ein Halbgott und ein Untoter machten sich auf den Weg in die Berge.
Seshmosis nahm den Schrein von GON und verließ mit Nostr'tut-Amus, Tafa und Mumal den friedlichen Platz, um das Amulett seinem rechtmäßigen Besitzer zu bringen.
Der Minos lag geschwächt danieder und war nicht ansprechbar. Doch Glaukos, sein Stellvertreter, zeigte sich hocherfreut über das Heilige Amulett von Phaistos und dankte den Tajarim überschwänglich. Er legte es ehrfürchtig in eine Schatulle und sagte: »Hier wird das Amulett ruhen, bis der Minos von uns gegangen ist. Danach wird es seine uralte Aufgabe erfüllen und den Kretern den neuen, wahren Minos zeigen. Wer immer dies sein mag!«
Nach der Flucht von Katreus, Theseus, Nelos und Pelos war allen klar, wer die Verräter waren. Allerdings herrschte allgemeine Ratlosigkeit über das Verschwinden von
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