Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
den Abhang herunter. Ariadne erschrak und versuchte ihre Blöße zu bedecken. Der Fremde setzte sich wie selbstverständlich neben sie, so wie es alte Bekannte tun, wenn sie sich treffen.
»Eigentlich müsste ich dir böse sein«, sagte er ruhig.
»Du mir böse sein? Wer bist du überhaupt, Fremder?«
»Kennst du mich denn nicht, Ariadne? Ich bin dein Gatte und dein Gott, dem du Treue gelobt hast. Ich bin Dionysos, und du bist meine Priesterin.«
Nun wagte es Ariadne, den Mann neben sich genauer zu betrachten. Er war von stattlicher Gestalt, und sein Gesicht strahlte eine gewisse Heiterkeit aus. Seine schlichte Kleidung verriet nichts über seine Herkunft. Dieser Mann sollte ein Gott sein? Ariadne zweifelte, schwieg jedoch.
»Es ist mit euch Menschen immer das Gleiche. Wenn man nicht mit Blitz und Donner auftritt, glaubt einem keiner, dass man ein Gott ist. Ohne Spektakel keine Glaubwürdigkeit. Warum muss die Begegnung mit einem Gott immer von Sensationen begleitet sein? Kann man sich denn nicht einfach treffen und miteinander reden?«
Der Mann schnippte mit dem Finger, und im gleichen Augenblick landeten zwei Dutzend Kraniche am Strand. Sofort begannen sie in einer wunderbaren Choreographie zu tanzen. Ariadne kannte diesen Tanz, denn sie hatte ihn unzählige Male angeführt. Die Prinzessin war beschämt. Sie wusste nun, dass der Fremde wirklich Dionysos war, ihr Gott, dem sie einst ihr Leben geweiht hatte. Sie wollte sich gerade für ihr Verhalten rechtfertigen, als der Gott fortfuhr.
»Wie gerne sah ich dich den Kranich tanzen. Keine führte die Mädchen so einfühlsam wie du. Wie ich dieses Wiegen und Wogen der Leiber im Reigen liebe! Es bereitet mir einen schöneren Rausch als der beste Wein.«
Die Kraniche flogen davon, und der Gott schien nun einen imaginären Reigen zu betrachten und beschrieb mit den Händen und dem Oberkörper die Bewegungen der Tänzerinnen. Abrupt brach er ab.
»Deine Liaison mit Theseus hat mich verletzt. Nicht, weil du dich in einen jungen Mann verliebtest, sondern weil er deiner unwürdig ist. Keiner hat mehr Verständnis für den Rausch der Leidenschaft als ich. Doch dieser Schurke hat dich einfach nicht verdient. Aber das weißt du ja inzwischen selbst«, sagte Dionysos versöhnlich.
Dankbarkeit durchströmte Ariadne. Auch wenn sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte, hatte ihr immerhin ihr Gott verziehen.
Plötzlich schäumte, kochte und brodelte das Meer. Zwei imposante Gestalten entstiegen dem Wasser und kamen auf den Strand zu.
»So treten Götter auf!«, lachte Dionysos
Ariadne wagte vor Ehrfurcht kaum, die beiden anzusehen. Doch aus den Augenwinkeln erkannte sie ihren geliebten Halbbruder Asterion, und ihr wurde warm ums Herz. Immerhin hatte er durch ihren schrecklichen Verrat keinen Schaden genommen.
Vorsichtig blickte sie zur anderen Gestalt. Der Mann war ein bärtiger Gigant, der sich auf einen Dreizack stützte, obwohl er mit Sicherheit keine Stütze brauchte. Der große Poseidon persönlich stand am Strand der winzigen Insel Dia.
Asterion und Ariadne umarmten sich herzlich und warteten ergeben auf den Ratschluss der Götter.
Nach einer Weile verkündete Poseidon: »Eigentlich sollte ich dich zerschmettern, Ariadne, denn du hast meinen Sohn, deinen Halbbruder, verraten. Doch um der Liebe willen, die er zu dir hegt, will ich Gnade vor Recht ergehen lassen. Zurückkehren könnt ihr nicht mehr, und zu den Sternen will ich euch nicht entrücken, denn ich habe für euch beide eine große Aufgabe. Im Norden, im Land der Kelten, brauchen die Menschen gütige Geister. Die ehrwürdige Göttin Danu und ihr tapferes Volk, die Tuatha Dé Danann, erwarten euch bereits. Du, Asterion, sollst als Deistaurus, als göttlicher Stier, Fruchtbarkeit bringen und den Kriegern, wenn nötig, im Kampf den Furor, die ›heilige Raserei‹ schenken. Du aber, Ariadne, sollst fortan kein Mensch mehr sein, sondern als Kranich die Seelen der Menschen aufnehmen und sie zu ihrer Zeit in Menschen zurückverwandeln. So werdet ihr, als der Stier, auf dem ein Kranich steht, für immer im Gedächtnis der Menschen bleiben.«
»So sei es!«, bekräftigte Dionysos, und auf den Gedanken der Götter reisend, verließen die Geschwister mit einem sanften Rauschen die Insel Dia.
An der Küste des Krieges
Die Gublas Stolz pflügte seit vielen, vielen Stunden durchs nächtliche Meer. Die Gischt am Bug deutete auf eine enorm hohe Geschwindigkeit hin. Das war insofern ungewöhnlich, weil
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