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Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer

Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer

Titel: Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Scherm
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das Segel ebenso eingeholt war wie die Ruder. Keiner an Bord wusste, was das Schiff eigentlich so schnell vorantrieb. Verunsichert starrte die Besatzung in die undurchdringliche Mischung aus Nacht und Nebel. Kein Stern verriet ihre Position, nur ein stetiges Brausen begleitete sie durch die Dunkelheit.
    »Müsste die Sonne nicht schon längst wieder aufgegangen sein?«, fragte Uartu.
    »Vielleicht sind wir über den Rand der Welt gesegelt«, mutmaßte Zerberuh ängstlich.
    »Nein, nein, das ist unmöglich! Der Rand der Welt ist jenseits der Säulen des Herakles im Atlantik. Der ist viel zu weit entfernt!«, widersprach der Phönizier und berief sich dabei energisch auf seine Kompetenz als Navigator.
    Seshmosis trat zu den beiden und kommentierte die Lage besorgt: »Ich habe schon einmal eine so lange währende Nacht erlebt. Es war die Nacht der Finsternis, als in Ägypten alle Erstgeborenen starben.«
    »Und was willst du damit sagen?«, fragte Uartu. »Dass ich sterben werde? Ich bin nämlich der Erstgeborene meiner Mutter.«
    »Wenn es genauso geschähe, wärst du bereits tot. Nein, ich will damit sagen, dass ich sicher bin, dass die Götter wieder einmal ihre Hand im Spiel haben.«
    »Wie meinte schon mein Vater: Auf hoher See und vor Gericht ist man in Gottes Hand.« Uartu schien zu resignieren. »Hoffen wir also, dass es einem gütigen Gott gefällt, die Sonne wieder aufgehen zu lassen. Und dass wir bis dahin nicht wirklich über den Rand der Welt fallen.«
    Nostr'tut-Amus, der ebenfalls am Bug stand und in die Nacht schaute, orakelte düster: »Das wäre noch ein gnädiges und schnelles Schicksal. Ich sehe kämpfende Krieger, erschlagene Kinder, geschändete Frauen in einer brennenden Stadt. Und was das Schlimmste ist: Ich sehe uns mittendrin!«
     
    *
     
    Die junge Frau beugte sich über die Zinnen der Stadtbefestigung und spähte nach Westen zur Küste. Die Landschaft, die vom Strabons und vom Xanthos, den beiden Mündungsflüssen des Skamander, durchzogen wurde, lag friedlich im Abendlicht. Das rote Schimmern der beiden Flüsse kam heute wirklich von der untergehenden Sonne und nicht vom Blut der gefallenen Krieger.
    Seit fast zehn Jahren lag dort das Heerlager der Achäer, und ebenso lange hatte Troja standgehalten. Doch Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs Priamos, sah viel mehr als das Lager der Feinde. Sie sah immer mehr als andere Menschen. Kassandra sah die Zukunft.
    Alles hatte sie vorhergesehen, alles, und doch hatte ihr keiner geglaubt. Sie hatte vor den Liebeseskapaden ihres Bruders Paris ebenso gewarnt wie vor dem Kampf ihres Bruders Hektor gegen den Achäer Achilleus.
    Kassandra verfluchte Apollon und seine Gabe, die sie nie wollte. Ebenso wenig wie seine unerträgliche Liebe. Sie hasste diesen göttlichen Stalker, der ihr so lange nachgestellt und so viel Unglück über ihre Familie gebracht hatte. Um sie zu bezirzen, hatte er sie einst mit der Gabe der Weissagung bedacht, doch als sie seine Liebe nicht erwidert hatte, hatte er ihr die Glaubwürdigkeit genommen. So war sie zu Kassandra geworden, der Schwarzseherin, der chronischen Pessimistin, der königlichen Unkenruferin, der niemand glauben schenkte, die niemand ernst nahm.
    Kassandra blickte auf die Ebene vor Troja, und wie so oft überlagerten sich zwei Bilder. Das eine Bild zeigte eine verlassene Landschaft, das andere eine blutige Schlacht.
    Nun brauchte es dieser Tage keine seherischen Fähigkeiten, um solche inneren Bilder zu sehen. Seit einem Jahrzehnt war die Ebene zu Füßen der Stadtmauern Schauplatz blutiger Kämpfe. Viele Frauen hatten an vielen Tagen zu ihren Männern und Söhnen gesagt: »Ziehe nicht hinaus, denn du wirst den Tod finden«. Doch die Männer und Söhne wollten es ihnen nicht glauben, weil es immer die anderen waren, die nicht zurückkehrten. Bis zu dem Tag, an dem sie hinauszogen und selbst den Tod fanden.
    Bei Kassandra war es anders. Wenn sie sagte: »Ziehe nicht hinaus, denn du wirst den Tod finden«, dann war dies kein ängstliches Flehen, sondern eine sichere Vorhersage. Eine todsichere Vorhersage.
    Denn Kassandra sah mehr, viel mehr als andere Menschen. Sie sah nicht die Toten von gestern, sondern die von morgen. Mit Grausen wandte sie sich ab.
     
    *
     
    Athene tobte. Athene spukte Gift und Galle. Athene schleuderte ihren Speer gegen Apollon, der ihm geschickt auswich.
    »Keine Kampfhandlungen im Olymp!«, brüllte Zeus. »Ich werfe euch alle raus, wenn ihr nicht zur Vernunft kommt!«
    »Aber

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