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Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer

Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer

Titel: Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Scherm
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sondern von den Siegern geschrieben. Bei ihnen liegt die Wortgewalt und damit die Wahrheit. Glaub mir, wer tot ist, schreibt keine Geschichten mehr auf.«
    Homeros nahm einen langen Dolch und fuchtelte, blind wie er war, vor Seshmosis in der Luft herum.
    »Vorsicht!«, schrie Seshmosis. »Du könntest mich umbringen!«
    »Siehst du, die Wahrheit liegt hinter der Spitze des Schwertes. Wer vor der Spitze steht, hat andere Sorgen.«
    »Warum schreibst du dennoch ihre Geschichte auf?«
    »Deswegen!«, sagte Homeros gequält und deutete auf seine geblendeten Augen. »Weil ich schon einen sehr, sehr hohen Preis bezahlt habe und die Sache zu Ende bringen will. Und um dem ganzen Wahnsinn vielleicht doch noch einen Sinn zu geben. Vielleicht erkennen ja die Menschen, die meine Geschichten hören, was in Wirklichkeit hinter dem so genannten Heldentum steckt.«
     
    *
     
    Am nächsten Vormittag ging Seshmosis mit dem Schrein von GON zum kleinen Lager der Tajarim am Strand. Dort stellte er den Kasten auf einen kleinen Sandhügel und lud seine Freunde zur »Stunde des Dankes« ein. Zu Seshmosis' Freude kamen alle; sogar einige der phönizischen Seeleute schlossen sich ihnen an. Ganz in der Nähe beobachteten etliche Achäer, deren Aufgabe es war, die Tajarim im Auge zu behalten, misstrauisch die Szene.
    In vorderster Reihe knieten Kalala, El Vis, Nostr'tut-Amus und Elimas. Seshmosis räusperte sich, dann begann er zu sprechen.
    »Wir alle sind fern unserer Heimat, und vielleicht kommt sich der eine oder andere verloren vor. Mir jedenfalls geht es so. Der Sand hier am Strand der Troas ist ein anderer als der in der Wüste von Ägypten, doch unser Herr, GON, ist derselbe, und er ist bei uns.«
    Wie zur Bestätigung seiner Worte stieg der Sand rund um den Hügel hoch und bildete einen flirrenden Vorhang. Dieser teilte sich genau vor dem Schrein, während der Rest der Umgebung wie hinter einem Schleier verborgen blieb. Über dem Schrein des Gottes bildete sich eine kleine Feuersäule. Die achäischen Wachen ließen ihre Speere fallen und warfen sich ehrfürchtig auf die Knie, während die Tajarim ergriffen die Hände zum Himmel hoben.
    »Seht, der Herr gibt uns ein Zeichen!«, rief Seshmosis. »Auch hier, an diesen kriegerischen Gestaden, ist er mächtig und beschützt uns. Lasst uns nun GON danken!«
    Die Anwesenden murmelten leise Dankesgebete, und schließlich verblasste die Feuersäule langsam. Als das letzte Wort verklungen war, beruhigte sich auch der Sand und rieselte sanft zu Boden.
    Mit einer Handbewegung beendete Seshmosis stumm die ungewöhnliche ›Stunde des Dankes‹, nahm den Schrein und kehrte zu Homeros' Hütte zurück.
     
    *
     
    Am folgenden Tag stürmten erneut die Mysianer und Trojaner gegen das Lager der erschöpften Achäer, und so wurden aus den Belagerern nun die Belagerten. Fast war schon eine Bresche in die Mauer geschlagen, als ein Schiff anlandete. Ihm entstiegen Diomedes, Odysseus und Neoptolemos. Während Diomedes sich sofort in die Schlacht stürzte, führte Odysseus den Sohn des Achilleus zu seinem nahe am Strand gelegenen Zelt und überreichte ihm die dort gelagerten Waffen seines Vaters. Keinem anderen außer dem von eigener Hand gefallenen großen Aias hätte der mächtige Brustpanzer gepasst. Neoptolemos legte die Rüstung an, sie saß wie angegossen. Dann ergriff er den prächtigen Schild, das Schwert und den Speer und eilte mit Odysseus zur Mauer. Die Trojaner glaubten, Achilleus selbst wäre zurückgekehrt, und wichen in panischer Furcht. Neoptolemos stürzte sich ins Getümmel und brachte seinem gefallenen Vater ein ums andere Schlachtopfer dar. Bis zum Einbruch der Dunkelheit erschlug Neoptolemos in seinem Blutrausch jeden, der ihm in die Quere kam.
     
    *
     
    Während draußen die blutige Schlacht tobte, fertigte Seshmosis in der Hütte des Dichters eifrig Notizen für Homeros. Am häufigsten waren dabei Wörter wie »erschlug«, »erstach« und »zerschmetterte«. Dazu eine schier endlose Liste von Namen und die Anmerkung, wer wem diese Wörter antat.
    Seshmosis hatte inzwischen von Homeros erfahren, dass dieser bisher keineswegs die ganzen, nahezu zehn Jahre des Krieges in Verse gefasst hatte, sondern nur einen Teil mit dem Titel: »Der Groll des Achilleus«.
    Das Epos behandelte lediglich einundfünfzig Tage des neunten Kriegsjahrs und umfasste dennoch 15682 Verse.
    Seshmosis war beeindruckt. »Wenn du die anderen Tage und Jahre ebenso umfänglich darstellen willst, hast du noch einiges

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