Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
zweite Pfeil vom Bogen des Herakles in die Leiste.
Zwei trojanische Krieger packten den verletzten Prinzen, luden ihn auf einen Streitwagen und fuhren ihn schnell aus der Kampfzone.
Während sich die Ärzte um Paris kümmerten, hielt das Toben der Schlacht an. Doch nach einer weiteren Stunde des Tötens und Sterbens zogen sich endlich beide Seiten erschöpft zurück.
*
Seshmosis listete für Homeros die Namen der Toten ebenso auf wie die derjenigen, die sie ins Jenseits befördert hatten. Er, Seshmosis, ein unbedeutender Schreiber aus Theben, wirkte hier an der großen Weltgeschichte mit, doch es erfüllte ihn keineswegs mit Stolz. Die Tinte war zu sehr mit Blut versetzt, als dass er an diesem Epos Gefallen finden konnte. Welchen Nutzen hatten diese Verse für die Menschheit? Wer, außer Homeros und ihm, wurde davon satt? Wem, außer den fragwürdigen Helden und ihrem zweifelhaftem Ruhm, nutzte alle akribische Überlieferung?
Seshmosis wagte es nicht, Homeros diese Überlegungen mitzuteilen, deshalb sagte er provozierend: »Der junge Neoptolemos scheint wahrlich ein großer Held zu sein.«
»Er ist ein großer, hemmungsloser Schlächter und hirnloser Totschläger, genauso wie sein Vater Achilleus!«, empörte sich der Dichter, und Seshmosis freute sich über diese Antwort, da er nun zumindest wusste, dass er mit seiner Meinung über diesen Krieg und seine »Helden« nicht alleine dastand.
*
In Troja kümmerten sich die Ärzte vergeblich um die Verwundung des Paris. Das Gift, das durch die Pfeile des Herakles in seinen Körper eingedrungen war, ließ die Wunde und alles umgebende Fleisch schwarz werden. Kassandra, die am Krankenlager ihres Bruders stand und seine Hand hielt, erkannte, dass es in Troja keine Hilfe mehr für Paris gab. Eindringlich sagte sie zu ihrem Bruder:
»Erinnere dich des Orakels, das dir Önone, deine geliebte Frau, verkündete! Sie hatte dir geweissagt, dass dir einst in großer Not nur sie helfen könne. Ich lasse dich zu ihr bringen!«
Kurz darauf verließ ein kleiner Zug unter Führung von Kassandra mit dem auf eine Bahre gebetteten Paris Troja durch das rückwärtige Dardanische Tor. Ihr Ziel war das Gebirge hinter der Stadt, wo einst Paris in der Verbannung als Hirte gelebt und seine Gemahlin Önone geliebt hatte.
Als sie das Haus der Hirtin und Heilerin erreichten, wies Paris seine Diener an, ihn aufzurichten und zu stützen.
»Ich will ihr aufrecht gegenübertreten und nicht wie ein Schwächling vor ihr liegen!«
Die Hirten des Gebirges sagten, Önone sei eine Nymphe, aber Hirten haben viel Zeit, sich Geschichten auszudenken. Doch wenn eine Nymphe jemand war, der sich um das Land und die Menschen und Tiere darin kümmerte, dann war Önone eine. Sie war nicht mehr so jung, wie romantisch veranlagte Maler Nymphen zu malen pflegten. Sie war auch nicht mehr rank und schlank wie ein junger Baum, sondern kräftig und ein wenig ausladend wie eine Eiche, die schon viele Winter überdauert hat. Graue Strähnen durchzogen ihr pechschwarzes Haar, und die Bitterkeit hatte tiefe Falten in ihr Gesicht geschnitten.
Nun trat Önone vor ihr Haus und war überrascht vom unerwarteten Besuch ihres treulosen Gemahls. Da bemerkte sie seine Verwundung und verstand.
»Ehrwürdige Frau«, begrüßte Paris sie mit schwacher Stimme. »Bitte verdamme mich jetzt nicht, weil ich dich unfreiwillig verließ. Es waren die unerbittlichen Schicksalsgötter, die mich in die Arme einer anderen trieben. Ich beschwöre dich bei allen Göttern und bei unserer alten Liebe, heile mich von dieser schrecklichen Wunde!«
Önone sah den Prinzen von Troja lange schweigend an, bevor sie erwiderte: »Dich trifft also keine Schuld, dass dich Geilheit und Gier in die Arme von Helena trieben? Du wolltest also gar nicht den Ruhm, mit der Schönsten, von allen Männern Begehrten, im Bett zu liegen? Und das Gold des Menelaos packten wohl die Götter in deine Schatzkammer? Ich glaube dir, dass du keine Verantwortung für all dies hast, mein Gatte, weil du verantwortungslos bist! Aber was kommst du heute zu mir? Zu der, die du schnöde verlassen und dem Jammer preisgegeben hast? Wärst du mir aufrichtig begegnet, statt aufrecht in deiner Eitelkeit, hätte ich dir verziehen. Geh doch zu deiner Geliebten, der die Götter ewige Jugend verliehen! Wirf dich doch ihr zu Füßen, dass sie dir helfen möge, aber mich lass in Frieden für immer!«
Nun ergriff Kassandra das Wort und bat inständig für ihren Bruder. Sie
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