Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
Stadtmauer.
Die Achäer versuchten die beiden großen Tore gleichzeitig zu erstürmen, und so kämpfte Diomedes am vorderen Skäischen Tor und Neoptolemos mit seinen Myrmidonen am rückwärtigen Dardanischen Tor. Aineias, der inzwischen auf den Mauern der Stadt stand, schmetterte Stein um Stein auf die Angreifer. Der Kriegsgott Ares selbst hielt sich unsichtbar neben ihm und leitete seine todbringenden Würfe auf das heranstürmende Heer. Dabei traf er Hephaistos, den göttlichen Schmied, am Kopf, sodass dieser blutend zusammenbrach. Hermes, der Götterbote, eilte hinzu und rettete ihn in die Sphäre der Götter, bevor ihm ein Trojaner das Schwert in die Brust bohren konnte. Das Eingreifen von Ares erzürnte Athene dermaßen, dass sie einen achäischen Speer direkt in die Brust des Kriegsgottes lenkte. Schmerzerfüllt floh der verwundete Ares zum Olymp.
Aphrodite verteidigte mit den Trojanern das Haupttor, bis sie von Diomedes einen Schwertstreich am Arm empfing. Und auch Athene musste vom Schlachtfeld hinken, weil ein vergifteter Pfeil ihren Fuß durchbohrt hatte.
Zwischenzeitlich kehrte Zeus in den Olymp zurück und schaute entsetzt auf die immer größer werdende Schar der verwundeten Götter und Göttinnen. Er warf einen wütenden Blick auf das Spielbrett, wo das Gemetzel unvermindert weiterging.
Nun verlor der oberste Olympier endgültig die Geduld und hüllte Troja in einen dichten Nebel. So zwang er die göttlichen und menschlichen Kämpfer, die Schlacht zu beenden.
*
Artemis, die uralte Göttin der Natur, kümmerte sich im Olymp um die verwundeten Gottheiten. Selbst den verachteten Pan hatte man dazugeholt, weil man seine Heilkünste dringend benötigte.
»Seid ihr alle wahnsinnig geworden?«, brüllte Zeus. »Wozu haben wir denn die Menschen? Sie sind unsere Spielfiguren! Aber ihr lasst euch hinreißen, euch gegenseitig abzuschlachten! Was ist nur in euch gefahren?«
Die Götterversammlung bot ein Bild des Jammers. Erstmals in der Geschichte des Olymps befleckte göttliches Blut den erlesenen Marmorfußboden. Hilfreiche Geister schleppten Verbandsmaterial und Salben herbei, und allenthalben waren Schmerzenslaute und Flüche zu hören.
Ares, vom Speer der Athene in der Brust verwundet, atmete schwer und stöhnte nur leise, doch seine Blicke in Richtung der verfeindeten Göttin sprachen dafür umso deutlicher: Rache!
Die stumm bedrohte Athene versuchte derweil vergeblich, ihre gelähmten Zehen zu bewegen. In ihrem Mittelfuß war ein von einem Giftpfeil schwarz verfärbtes Loch, und die Riemen ihrer Sandalen waren blutgetränkt. Entsetzen über die eigene Verwundbarkeit spiegelte sich in ihren Augen. Und Aphrodites viel gerühmte, makellose Schönheit wurde derzeit von einer klaffenden Wunde am Oberarm merklich beeinträchtigt. In einigen Aphrodite-Tempeln Griechenlands und Kleinasiens fielen den Statuen bereits die Arme ab und bildeten die Grundlage für einen großen antiken Torso-Fundus.
Hier wirkte das uralte Prinzip ›Wie oben, so unten‹, ohne dass die Götter selbst es bemerkten.
»Wehe, wenn eine Narbe zurückbleibt!«, warnte sie Pan, der sich besorgt um sie kümmerte.
»Da musst du dich schon beim Verursacher beschweren«, wehrte der Hirtengott ab. »Ich sorge lediglich dafür, dass dir der Arm nicht abfällt.«
Hephaistos, der inzwischen das Bewusstsein wieder erlangt hatte, malte sich im stummen Schmerz aus, welche Qualen er Ares bereiten würde, wenn er ihn erst in seiner unterirdischen Schmiede in Ketten gelegt hätte.
Nachdem alle Verwundeten versorgt waren, wandte sich Zeus an die versammelten Götter. »Es sind viel zu viele göttliche Waffen im Umlauf. Ihr habt eure Halbgötter und Helden mit unzähligen vergifteten Pfeilen, heiligen Speeren und magischen Schwertern ausgerüstet, die sich nun gegen uns richten. Wir müssen Inspektoren ausschicken, die diese Waffen suchen und uns zurückbringen.«
»Aber ohne göttliche Waffen ist das Spiel langweilig«, wandte ausgerechnet Apollon ein, der die letzte Auseinandersetzung nur durch seine schnelle Flucht unverletzt überstanden hatte.
»Ihr selbst habt euch ins Spiel begeben und euch angreifbar gemacht. Wo sind nur die Zeiten geblieben, als ihr euch an Bauernopfern und Heldentod erfreutet? An der List von Verrätern und der Lust von menschlichen Leibern? Nein, ihr müsst ja selbst das Schwert schwingen und Steine werfen, auf dass man euch bewirft und schlachtet. Jetzt ist Schluss damit! Diese Waffen sind zu mächtig.
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