Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
Arbeitsstunden seiner Diener Jabul, Jebul und Jubul in Rechnung zu stellen.
Seshmosis ordnete in Homeros' Hütte die Aufzeichnungen, während der Dichter im Sitzen eingeschlafen war. Plötzlich sagte dieser:
»Es ist schon erstaunlich, wie überzeugend sich der Mensch selbst belügen kann.«
»Wie meinst du das?«, fragte der Schreiber irritiert.
»Nun ja, ich zum Beispiel rede mir seit langem ein, dass ich durch den Verlust meines Augenlichts besser dran bin, weil ich das ganze Elend nicht mehr sehen muss. Irgendwann glaubte ich mir und empfand meinen Zustand als Gnade.«
»Und ist er das nicht?«
»Nein! Es ist schrecklich. Ich höre die Geräusche des Kampfes, das Schreien der Krieger, das Klirren der Waffen, den grausigen Klang, wenn Metall in Fleisch eindringt und Knochen zerbricht. Ich rieche den Angstschweiß, das Blut und die Exkremente der Furcht. Ich höre das Surren der Fliegen, die sich der toten Helden bemächtigen, und spüre die Hitze des Feuers, das sie auf den Scheiterhaufen zu Asche verbrennt. Und der Gestank verbrennenden Fleisches frisst sich unauslöschlich in meine Seele.«
»Aber sind nicht gerade diese Helden dein großes Thema? Bist es nicht du, der ihnen für immer ein Denkmal setzt?«, versuchte Seshmosis zu trösten. Doch der Dichter schien ihn nicht zu hören.
»Irgendwann habe ich einen Fehler gemacht. Vielleicht hätte ich den Froschmäusekrieg nicht schreiben sollen. Ein Hymnus an die Liebe zwischen Fröschen und Mäusen wäre die bessere Alternative gewesen. Dann hätten sie mich sicher nicht ausgewählt, damals, auf dem Marktplatz von Kolophon, meiner geliebten Heimatstadt.«
»Unergründlich ist der Ratschluss der Götter. Auch ich habe oft anders gehandelt, als mein Herz es wollte, und es meist bereut. Aber dann fand ich doch immer wieder Trost und Hoffnung. Die bleibt uns, egal was geschieht. Schau nur, wie es Raffim erging! Wir alle dachten, er sei des Todes, und nun ist er wieder bei uns, unbeschadet und prahlerisch wie eh und je. Der Kerl ist mir ein Gräuel, so lange ich denken kann, und dennoch habe ich ihn vermisst«, versuchte Seshmosis den Dichter abzulenken und aus seiner Traurigkeit zu holen.
Als die Sonne im Meer vor der Troas versank, strömten unzählige Achäer zum Konzertplatz. Auf einem kleinen Hügel überragte ein riesiges hölzernes Pferd die Szenerie, das die Tajarim mit Hilfe der großen Räder an jedem Huf auf die Anhöhe gezogen hatten. Davor brannten Fackeln in den unterschiedlichsten Farben. Ihre Farbenpracht verdankten sie Nostr'tut-Amus' magischen Pulvern.
Plötzlich erhellte ein gleißender weißer Lichtblitz den Hügel und ließ die Gespräche im Publikum schlagartig verstummen. Eine Luke öffnete sich an der hinteren Flanke des Pferdes, und dahinter erschien der trommelnde Mumal. Dann gesellte sich der wehmütige Klang eines Shofarhorns zu den Trommelschlägen, und hinter einer geöffneten Luke am Hals des Pferdes kam der blasende Elimas zum Vorschein. Der Trommelwirbel steigerte sich, und in der Mitte des Pferdekörpers öffnete sich eine große Klappe. Aus dem Dunkel trat El Vis nach vorn, von Fackeln in ein warmes Licht getaucht. Es sah aus, als schwebe er vor dem Pferd, und der silbrige Klangteppich seiner Lyra legte sich friedlich über die Ebene. Ein lauter Trommelschlag ertönte, und in luftiger Höhe auf dem Pferderücken stehend, erschien eine schwarze Gestalt. In der einen Hand hielt sie Zügel, in der anderen eine brennende Fackel. Es war Tafa, bekleidet mit einem schwarzen Lendenschurz und einem schwarzen Umhang.
Das Publikum war beeindruckt von der unheimlichen Gestalt, die sich wie ein stehender Reiter im galoppierenden Rhythmus von Mumals Schlagwerk bewegte.
Nach einigen Takten begann El Vis zu singen:
Nachtreiter, Nachtreiter.
Man denkt, es ist das Flüstern des Windes,
der in den Bäumen rauscht.
Es ist aber der Nachtreiter,
der durch die Straßen fegt, wenn es dunkel wird.
Nachtreiter, Nachtreiter.
Er kam in die Stadt geritten,
als die Sonne unterging.
Er lachte meine Liebste an und gewann ihr Herz.
W as soll ich tun?
Besorgt bat ich meine Liebste,
bei ihrer Mutter zu Hause zu bleiben.
Sie lachte mich aus wegen meiner Angst,
dass sie mit ihm in die Nacht reiten würde.
Nachtreiter, Nachtreiter.
Seit er die Gegend unsicher macht,
habe ich meinen Frieden verloren.
Nachtreiter, lass meine Liebste in Ruhe.
Bitte gib sie mir zurück.
Nachtreiter, Nachtreiter! 4
Die
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