Die Nomadengott-Saga 03 - Die Weltenbaumler
Weisheit ein Auge geopfert, doch der Eichkater wollte gar nicht so tief blicken. Ihm reichte es, dass er sich in der Wasseroberfläche spiegeln und seine schön gezwirbelten Ohrpinselhaare bewundern konnte. Dann noch ein Kontrollblick auf die frisch polierten Nagezähne und schnell weiter zu Nidhöggr, der im Wurzelwerk des Weltenbaums hauste.
Der Drache sah wie immer abscheulich aus. Seine hervortretenden Augen waren rot unterlaufen, und aus seinen Lefzen tropfte grüner Geifer, der beim Auftreffen dampfend Löcher in das Holz und den Boden brannte.
»Hräswelgr lässt dir sagen, dass die Zeit der Würmer zu Ende geht. Wenn in Bälde der Baum wackeln sollte, verkrieche dich besser unter den Wurzeln, weil dir sonst der Adler jede Schuppe einzeln von deinem fauligen Körper reißen wird.«
»Sind das seine Worte oder deine, Ratatöskr?«, knurrte der Drache misstrauisch. »Ich glaube, der alte Hornschnabel kann überhaupt nicht mehr sprechen, so senil und altersschwach wie er ist.«
»Oh, er ist noch ziemlich munter. In seinem rechten Auge nistet immer noch der Habicht Hochhose. Die beiden verstehen sich blendend und sehnen den Tag herbei, an dem sie dir die Eingeweide herausreißen werden.« Ratatöskr tat scheinbar unbeteiligt, so als wäre er wirklich nur ein neutraler Bote, der mit der ganzen Angelegenheit eigentlich gar nichts zu tun hatte.
»Hat der alte Leichenverschlinger auch etwas Neues zu sagen?«, fauchte Nidhöggr verächtlich.
»Ja! Du solltest in nächster Zeit besser einen langen Schlaf halten, wenn du im nächsten Äon noch im Spiel sein willst.«
»Dann richte diesem abgemauserten Schreihals aus, dass ich ihm noch vor Ende dieses Äons jede Feder einzeln ausreißen werde, wenn er mich nicht endlich in Ruhe lässt. Und dich mickriges Fellbündel will ich mindestens einen Tag lang nicht mehr sehen! Verschwinde! Aus meinen Augen, du rotbraunes Elend!«
Ratatöskr wusste, dass jetzt Eile geboten war. Noch ein Satz von ihm, und der Drache würde ihn mit einer Giftwolke einnebeln. Mit Höchstgeschwindigkeit rannte das Eichhörnchen den Baum empor, um schnell aus der Reichweite Nidhöggrs zu kommen. Erst als eine sichere Distanz zwischen ihm und der Wurzel lag, machte Ratatöskr Rast auf einem Ast.
Jetzt konnte er in Ruhe darüber nachdenken, was er dem Adler Hräswelgr erzählen würde. Es gab Tage, da liebte der Eichkater seinen Beruf.
*
In dem kleinen Ort Hafnir gab es kein Gasthaus und keine Herberge. Die wenigen Fremden, die hierherkamen, genossen die Gastfreundschaft Frodis und nächtigten in seiner Halle. Der Häuptling bestand darauf, dass er die Tajarim beherbergen durfte, die phönizischen Seeleute dagegen schliefen lieber auf dem Schiff.
Am späten Abend trat Seshmosis vor das Haus, um frische Luft zu schnappen. Das unbekannte Getränk Met war stärker, als es seine Süße vermuten ließ. Während der Schreiber den Himmel betrachtete, befiel ihn auf einmal eine große Melancholie. Mit schwerer Zunge sagte er zu sich selbst:
»Diese Sterne hier sind meine Sterne, und doch sind es nicht meine Sterne. Sie leuchten wie zu Hause, aber sie sternen anders. Meine Tani! Schaust du gerade auch zu den Sternen? Ich möchte, dass du zu den Sternen schaust. Auch wenn die Sternbilder so verschoben sind. Sie sternen irgendwie falsch auf dieser Insel. Gerne würde ich dir diese Sterne zeigen. Viel lieber würde ich dir aber die Sterne zu Hause zeigen.«
Auf einem Pfosten vor Seshmosis ließ sich ein Rabe nieder. Seine Silhouette verschmolz im fahlen Mondlicht fast ganz mit dem Hintergrund, nur sein rotes Augenpaar leuchtete deutlich in der Dunkelheit.
»Hebe dich hinweg, Nachtvogel!«, befahl Seshmosis und wedelte mit den Händen, um den Vogel zu verscheuchen.
»Auf dieser Insel wäre ich zu Raben höflicher«, warnte der Schwarzgefiederte. »Sie könnten Sendboten der Götter sein.«
»Herr, bist du es?«, fragte Seshmosis erschrocken den Vogel.
»Ja, zu deinem Glück! Aber ich könnte auch jemand anderes sein, der dir nicht so wohlgesonnen ist.«
»Verzeih, Herr, das fremde Getränk verwirrt mich.«
»Das habe ich schon bemerkt. Du solltest in Zukunft nicht mehr als ein Horn davon trinken. Aber hör mir zu, es ist wichtig! Sag dem Finnen Sampo, dass du hier auf der Insel nach einem Nachfahren von dir suchst. Er kann dir Hinweise geben.«
»Gerne, Herr, aber warum gibst du mir nicht die Hinweise? Du bist doch mein Gott.«
»Es gibt Regeln, auch hier, und an die muss ich mich halten.
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