Die Nonne und der Harem
Heloïse sah, wie ihnen zwei muskulöse Männer mit einem Turban entgegenkamen. Ihre Hände hatten die Arme einer Frau ergriffen, die trotzig versuchte, sich zu befreien. Die Nonne erschrak, als sie in ihr Gesicht blickte. Trotz der Maske aus Wut, Angst und Verzweiflung erkannte sie die Gräfin Pierrette de St. Courchose im gleichen Moment, in dem die Gräfin auch sie erblickte. Mit allem Stolz zu dem sie fähig war, ging sie nun aufrecht und warf der Nonne einen kopfnickenden Gruß zu, den Heloïse erwiderte. Pierrette schien ein schlimmeres Schicksal als sie getroffen zu haben. Was taten sie ihr nur an?
Pierrette de St. Courchose spürte die Hände der Männer schmerzhaft an ihren Armen, als sie weiter den Korridor entlang geführt wurde. Der Anblick der Nonne hatte ihr zumindest kurzfristig wieder Kraft verliehen. Niemals hätte sie gedacht, dass ihr Glaube irgendeine Bedeutung für sie bekommen könnte. Er war eine gesellschaftliche Notwendigkeit gewesen, die zur Repräsentation verwendet werden konnte und als Mosaiksteinchen in den zahllosen Intrigen, die plötzlich so bedeutungslos geworden waren. In dieser osmanischen Vorhölle, in die das Schicksal sie geführt hatte, war der Anblick Heloïses ihr einziger Rettungsanker, der sie nicht vollständig verzweifeln und aufgeben ließ. Ein Rettungsanker nicht nur zu ihrer geliebten Heimat, deren Bedeutung ihr erst durch die Entführung bewusst wurde, sondern auch ein Rettungsanker, um ihren Willen zu bewahren.
Seit dem Zeitpunkt, als die Schlacht von Asbourt verloren wurde und die osmanischen Truppen sie und viele andere christliche Frauen entführt sowie die Männer erschlagen hatten, war ihr wohlgeordnetes Leben und ihr Selbstverständnis als mächtige, adlige Frau mehr als nur auf die Probe gestellt worden. Die Osmanen hatten schnell begriffen, dass sie hochgestellt war in der christlichen Gesellschaft. Ebenso schnell hatten sie erkannt, dass Pierrette einen starken Willen besaß, den man nicht ohne weiteres brechen konnte. Die lange Reise zu ihrer Stadt und in den Harem hatte sie größtenteils gefesselt verbracht, denn die Wächter waren es irgendwann leid gewesen, ständig ihre Fluchtversuche zu vereiteln und sie bändigen zu müssen. Statt dessen war sie wie ein verschnürtes Paket transportiert worden und einer der Wächter war ihrer Sprache soweit mächtig, dass er ihr furchtbare Geschichten über ihr zukünftiges Schicksal erzählte, wann immer er in der Stimmung war, sie zu quälen. Im Harem würde sie lernen, ihre christlichen Beine breit zu machen und Türkenschwänze in sich zu lassen, wann immer der Sultan es von ihr verlangte. Pierrette hatte kein Wort seiner Geschichten geglaubt, denn sie waren zu unglaubwürdig gewesen. Ihre Überraschung war groß gewesen, als sie bereits bei der Ankunft im Harem Details erkannte, die der Wächter erzählt hatte. Männer mit hohen, weiblichen Stimmen, die daher rührten, dass man ihnen ihr Geschlecht bereits im Knabenalter abgeschnitten hatte und die als Wächter im Harem fungierten. Der Prunk, der überall sichtbar war und den sie als maßlose Übertreibung abgetan hatte. Und die Haremsmutter, sie nannten sie Valide Sultana, als allumfassende Herrscherin in diesem Mikrokosmos der Macht. Wenn sie es richtig verstanden hatte, war die Valide Sultana die Mutter des Sultans. Zuerst hatte Pierrette über die Perversion dieser Vorstellung lachen müssen. Man stelle sich vor: die Mutter Ihrer Majestät des Königs, als Anführerin eines Bordells mit der Aufgabe, dass sie ihrem Sohn, dem mächtigsten Mann der Christenheit, schöne Nutten ins Bett brachte.
Nach dem ersten Gespräch mit der Valide Sultana hatte sie nicht mehr gelacht. Mit gestochen scharfen Worten in Pierrettes Sprache und mit klugem Verstand hatte sie ihr verschiedene Dinge klar gemacht. Dass sie als Christin keinerlei Rechte besaß, ihre Religion jedoch respektiert würde. Dass sie als Gefangene aus einer Schlacht noch weniger Ansehen hatte als eine Kakerlake. Dass sie mit einem Blick erkannt hatte, wie stark Pierrettes Wille war und sie ihr mitgeteilt hatte, dass der Sultan, ihr Sohn, keine widerspenstige Metze in seinem Bett duldete, sondern fügsame Frauen. Sie werde sich daher entweder zu einer schnurrenden Katze entwickeln oder so oft gevögelt werden, bis ihr Lebenslicht erlösche. Pierrette hatte ihr stolz ins Gesicht gelacht und in deutlichen Worten mitgeteilt, was sie von den Osmanen, von ihrer Religion und insbesondere von ihr persönlich
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