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Die Nonne und der Tod

Die Nonne und der Tod

Titel: Die Nonne und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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bestimmt schon.«

Kapitel 11
    Der Kapitelsaal war ein gedrungen wirkender Raum mit dunkel vertäfelten Wänden und niedriger Decke. An seinem Ende stand ein mit Schnitzereien verzierter Holzstuhl, über dem ein großes, ebenfalls aus Holz gefertigtes Kruzifix hing. Graues Tageslicht fiel durch kleine, vergitterte Fenster ins Innere und ließ die Gesichter der versammelten Nonnen blass wirken.
    Nicht alle waren zu meiner Einkleidung gekommen. Ich sah keine einzige Konversin und nur wenige Novizinnen. Mutter Immaculata saß auf dem Holzstuhl, der einzigen Sitzmöglichkeit im ganzen Saal. Rechts neben ihr stand ein Lesepult, auf dem eine aufgeschlagene Bibel lag. Schwester Johannita las mit monotoner Stimme die lateinischen Texte vor, die Nonnen lauschten ihr mit gesenkten Köpfen. Manche hielten die Augen geschlossen, andere spielten mit dem Rosenkranz, der von ihrem Gürtel hing. Sie schienen tief in das versunken zu sein, was Schwester Johannita ihnen vorlas. Ich versuchte ihre Worte zu verstehen, gab aber rasch auf. So viel Latein hatte Richard mir nicht beigebracht.
    Ich stand an der geöffneten Tür und wartete, so wie Schwester Maria es befohlen hatte. Sie wirkte nervös, so als befürchte sie, ich würde erneut einen Fehler begehen.
    Den Gefallen werde ich ihr nicht tun, dachte ich mit einem Blick auf Schwester Johannita.
    Sie trat vom Lesepult zurück und senkte den Kopf. Auch alle anderen standen so da, verharrten reglos im Gebet. Mutter Immaculata war die Einzige, deren Kopf nicht gesenkt war. Ihr trüber Blick musterte mich. Ich wich ihm aus.
    »Tritt vor, Kind«, sagte die Äbtissin plötzlich in die Stille hinein.
    Schwester Maria berührte mich am Rücken, drängte mich dazu, den Saal zu betreten. Die Kleidungsstücke, die ich anlegen sollte, trug ich auf den Armen vor mir her. Sie waren sorgfältig gefaltet, und ich hielt sie in der Reihenfolge, in der ich sie tragen würde. Schwester Maria wollte vermeiden, dass etwas schiefging.
    Die Blicke der Nonnen folgten mir, auch wenn keine von ihnen den Kopf hob. Ich sah meine Zimmergenossinnen Klara und Alfonsa zwischen den anderen, größtenteils weitaus jüngeren und kleineren Novizinnen stehen. Bei Tageslicht wirkten beide nicht ganz so hübsch wie am Vorabend. Klara hatte ein langes Gesicht mit spitzer Nase und spitzem Kinn, Alfonsas war rund wie der Vollmond in einer klaren Nacht. Sie senkten die Köpfe weniger als die anderen und betrachteten mich mit einer seltsamen Mischung aus Abneigung und Überheblichkeit. Obwohl ich nicht wusste, weshalb sie noch nicht zur Nonne geweiht worden waren, vermutete ich sofort, dass es ihr Stolz war, der ihnen diese Ehre verwehrte.
    Die Nonnen und Novizinnen bildeten einen Gang, durch den ich bis vor den Stuhl schritt, auf dem Mutter Immaculata saß. Ich entdeckte einen kleinen Tisch, so wie Schwester Maria es mir erläutert hatte, legte die Tracht darauf ab und blieb stehen.
    Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Schwester Johannita die Bibel vorsichtig zuklappte und einen kleinen Hängeschrank hinter sich an der Wand öffnete. Sie schlug die Bibel in ein besticktes Seidentuch ein, nahm ein anderes, dünneres Buch und legte es geschlossen auf das Pult. Schwester Maria hatte mir auf dem Weg zum Kapitelsaal den Ablauf der Einkleidung erklärt. Auf die stille Andacht folgte eine kurze Lesung aus der Benediktinerregel, die die Zisterzienserinnen übernommen hatten.
    Mutter Immaculata stand auf und ging zum Pult, und die Nonnen hoben beinahe gleichzeitig die Köpfe. Ihre Blicke streiften mich mit sichtlicher Neugier, dann wurden sie auf die Äbtissin gerichtet.
    Mutter Immaculata schlug das Buch auf, blätterte einen Moment mit einem flachen Holzstab darin, bevor sie nickte und sich räusperte.
    »Der Abt bevorzuge im Kloster keinen wegen seines Ansehens«, las sie mit ihrer brüchigen, alten Stimme. »Den einen liebe er nicht mehr als den anderen, es sei denn, er finde einen, der eifriger ist in guten Werken und im Gehorsam. Er ziehe nicht den Freigeborenen einem vor, der als Sklave ins Kloster eintritt, wenn es dafür keinen vernünftigen Grund gibt. Denn ob Sklave oder Freier, in Christus sind wir alle eins, und unter dem einen Herrn tragen wir die Last des gleichen Dienstes. Denn bei Gott gibt es kein Ansehen der Person.«
    Ich sah zu meinen Zimmergenossinnen, die ausdruckslos und ruhig zuhörten, so als hätten die Worte keine Bewandtnis für sie. Doch mir war klar, zumindest glaubte ich es, dass die Äbtissin diese Stelle

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