Die Nonne und der Tod
Ich hielt mich im Hintergrund, den Rücken an die kühle Wand gelehnt, und versuchte nicht einzuschlafen. Einige Nonnen mussten offensichtlich ebenfalls gegen den Schlaf ankämpfen, denn immer wieder sah ich, wie Köpfe kurz nach vorn sackten, nur um plötzlich wieder hochzurucken. Von meinem Platz neben der Tür aus sahen sie aus wie Korken, die auf dem Wasser tanzten.
Die Andacht dauerte nicht lange. Schwester Johannita blieb erneut neben mir stehen und wartete, bis die restlichen Nonnen die Kapelle verlassen hatten, dann forderte sie: »Folge mir!«
Wir gingen durch einen schmalen Gang, der nach einigen Windungen vor einer dunklen, eisenbeschlagenen Holztür endete. Schwester Johannita klopfte nicht an, sondern drückte die Klinke nach unten und trat in einen Raum, wo bereits Schwester Maria auf uns wartete.
Sie lächelte, als sie mich sah. »Ich habe schon gehört, dass du dich für ein Leben bei uns entschieden hast. Das freut mich.«
Hinter mir schnaubte Schwester Johannita einmal kurz, dann verließ sie ohne ein weiteres Wort den Raum.
»Ich bin die Kleiderverwalterin des Ordens«, fuhr Schwester Maria fort. Inmitten der zahlreichen Schränke und Truhen, die die Wände des Zimmers säumten, wirkte sie verloren und klein. »Normalerweise kümmere ich mich auch um die Novizinnen, wie du ja weißt, aber in deinem Fall besteht Mutter Immaculata darauf, dass Schwester Johannita dich anweist.«
Ich trat einen Schritt vor. »Was im Refektorium geschehen ist, tut mir leid. Ich wollte nicht …«
Schwester Maria ließ mich nicht ausreden. »Das muss dir nicht leidtun. Ich hätte dir wenigstens unsere grundlegendsten Regeln erklären müssen. Es war gut, dass Mutter Immaculata mein Versäumnis bemerkt hat, bevor ich mehr Schaden angerichtet hätte.« Sie lächelte, und es wirkte ehrlich. »Stolz ist eine schlimme Sünde, und ich war stolz darauf, dass ich diese Aufgaben so gut bewältigen konnte. Zum Glück hat der Herr dich geschickt und mir die Demut, die ich vergessen hatte, zurückgegeben. Ich bin dir dankbar.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.
Schwester Maria schien mein Unbehagen zu bemerken, denn sie räusperte sich und öffnete die Schublade einer Truhe. »Hat Schwester Johannita dir bereits die Regeln unseres Ordens erklärt?«, fragte sie, während sie einige gefaltete Kleidungsstücke aus der Truhe nahm.
»Ein wenig. Ich weiß, dass wir uns niemals unzüchtig zeigen, dass wir schweigen, beten und mit den Händen über der Bettdecke schlafen.«
Ich war mir nicht sicher, aber mir war, als würde Schwester Maria verhalten kichern. Als sie mir antwortete, klang ihre Stimme jedoch ganz normal.
»Sie wird dir sicher noch mehr erklären, aber es kann nicht schaden, wenn du es zweimal hörst.« Sie zog einen Schemel zwischen zwei Truhen hervor und bedeutete mir, mich darauf zu setzen. »Wir sind die Bräute Christi«, sagte sie dann. »Wir stellen unser Leben in seinen Dienst und ordnen ihm alles andere unter. Unsere wichtigsten Tugenden sind Glaube, Gehorsam und Demut, unsere größten Sünden Unglaube, Ungehorsam und Stolz. Den Stolz zu besiegen fällt den meisten von uns am schwersten.« Ich hörte, wie Schwester Maria hinter mir eine Schublade öffnete. Metall klapperte. »Deshalb ist es gut, dass Nonnen in einer Gemeinschaft leben. Wir können uns gegenseitig auf unsere Fehler aufmerksam machen, bevor der Teufel sich unser bemächtigt.«
Sie schloss die Schublade. Ich zuckte zusammen, als ihre Hand nach meinen Haaren griff, wollte erschrocken aufspringen, aber Schwester Maria legte ihre andere Hand auf meine Schulter und drückte mich wieder zurück auf den Schemel. Aus den Augenwinkeln sah ich die große Schere, die sie darin hielt.
»Hab keine Angst, es tut nicht weh.«
Sie zog meine Haare straff. Ich wehrte mich nicht dagegen, und nach einem Moment ließ sie meine Schulter los.
»Manche Mädchen weinen, wenn ich ihnen die Haare abschneide«, sagte Schwester Maria, »aber ich glaube nicht, dass du das tun wirst.«
Haarsträhnen kitzelten in meinem Nacken, fielen neben mir auf den grauen Steinboden. Ich ballte die Hände zu Fäusten und versteckte sie im groben Stoff meiner Schürze, damit Schwester Maria sie nicht sah.
»Meistens sind es die reichen Mädchen, die wissen, wie sie in einem Spiegel aussehen, und denen eine Zofe jeden Abend die Haare mit hundert Bürstenstrichen glatt gestrichen hat. Sie sind stolz und eitel, anders als du.«
Die Schere fraß sich durch mein Haar.
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