Die Nonne und der Tod
Demut auf die Probe stellen, vielleicht hoffte sie auch auf weitere Zwischenfälle, um uns – und vor allem mich – bestrafen zu können. Jedenfalls richtete sie ihren Blick öfter auf uns als auf alle anderen im Raum. Es kam mir vor, als würde sie auf etwas warten.
Ich hielt den Kopf gesenkt und schrieb den Buchstaben A. Benedikta hatte mir gezeigt, wie man das Pergament zuschnitt und mit einem feinen Graphitstift Linien zog, damit die Zeilen nicht verrutschten und die Ober- und Unterlängen der Buchstaben gleich blieben.
»Schwester Constantia ist die Einzige, die keine Linien braucht«, sagte sie leise, als ich das Lineal beiseitelegte.
Alfonsa verdrehte die Augen, schwieg jedoch. Schwester Johannita hatte ihr aufgetragen, den Buchstaben W zu schreiben, was sie mit sichtlichem Widerwillen tat. Nach den wenigen Tagen, die ich bisher mit ihr verbracht hatte, gewann ich allmählich den Eindruck, dass sie alles widerwillig tat. Sie nahm zwar die Mahlzeiten mit uns ein, achtete aber darauf, dass jeder sehen konnte, wie wenig ihr das Essen schmeckte, egal, was es gab. Sie erledigte zwar alle Arbeiten, die man ihr auftrug, ohne Widerworte, trotzdem fiel wohl jedem im Kloster auf, wie sehr ihr das missfiel. Einzig die Freundschaft mit Klara schien ihr etwas zu bedeuten.
»Wieso sagt niemand etwas zu ihr?«, fragte ich Benedikta auf dem Weg zur Küche. Schwester Johannita hatte mir befohlen, dass ich Benedikta begleitete, damit ich lernte, wie man Tinte kocht. »Verstößt sie nicht gegen all eu…« Ich unterbrach mich. »… gegen all unsere Regeln?«
»Ich kümmere mich nicht um solche Dinge.« Benedikta schritt rasch an einer Nonne vorbei, die im Kreuzgang auf und ab ging und in einem winzigen Buch las. »Mutter Immaculata wird schon ihre Gründe haben, warum sie Alfonsa nicht zurechtweist.«
»Ist Alfonsas Familie reich?«
Benedikta drehte sich zu mir um. »Das habe ich nicht gemeint.«
Sie wirkte verärgert, also entschuldigte ich mich.
Einen Moment lang gingen wir schweigend weiter, dann sagte Benedikta: »Ich versuche, meinen Schwestern in diesem Orden mit Liebe zu begegnen, aber manchmal fällt mir das schwer. Und wenn jemand solche Fragen stellt wie du, wird es noch schwerer.«
»Ich verstehe. Ich werde es nicht mehr tun.«
Wir gingen über den Hof zu den Wirtschaftsgebäuden, in denen sich neben den Ställen und Vorratskammern auch die Küche befand. Es roch nach frisch gebackenem Brot, und mein Magen begann zu knurren, noch bevor Benedikta die Tür öffnete.
Ich blieb stehen und genoss die Wärme, die mir entgegenschlug. Es gab nur zwei Räume im ganzen Kloster, in denen man auch im Winter nicht fror: das Refektorium und die Küche. Nirgendwo sonst gab es einen Kamin oder eine Feuerstelle.
Schwester Ursula, eine ältere Nonne, der die Küche unterstand, drehte sich um und sah uns an. Hinter ihr brannte ein offenes Feuer, über dem ein Kessel hing. Steinerne Öfen befanden sich rechts und links des Feuers, in Regalen stapelten sich Töpfe und Schüsseln. Konversinnen standen an einem langen Tisch und schälten Zwiebeln, und zwischen ihnen saß eine ältere Frau mit gerötetem, wettergegerbtem Gesicht vor einem Mörser. Ich sah, dass sie getrocknete Kräuter, hauptsächlich Dill und Minze, zerstampfte.
»Was wollt ihr denn hier?«, fragte Schwester Ursula. Sie war eine direkte, fast schon unhöfliche Frau, die stets schlecht gelaunt wirkte.
Benedikta hob die Hand, in der sie einen Lederbeutel hielt. »Schwester Johannita sagte, wir sollen Tinte kochen.«
»Jetzt?«
Ich nickte.
Schwester Ursula seufzte und nahm einen kleinen Eisentopf mit Kette aus einem der Regale. Härter als nötig stellte sie ihn auf dem Holztisch ab. »Wenn’s sein muss.«
Während Benedikta das Tintenpulver in Wein auflöste, beobachtete ich die Schwester am Holztisch. Sie war tief in ihre Arbeit versunken und schien keinen von uns wahrzunehmen. Die getrockneten Kräuter, die sie vor sich ausgebreitet hatte, waren mir allesamt bekannt. Melisse, Brennnessel, Minze, Hundskamille, Magenperle und dazwischen, fast nicht zu erkennen, unter Lavendel und Petersilie Schierling.
Ich stutzte.
»Willst du das wirklich verwenden?«, fragte ich.
Die Konversin sah als Einzige nicht auf. Alle anderen drehten den Kopf und starrten mich an, wussten nicht, wovon ich sprach.
»Das Kraut neben der Petersilie«, sagte ich, ohne seinen Namen auszusprechen. Mutter hatte mich immer vor Schierling gewarnt und ihn oft mit nach Hause
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