Die Nonne und der Tod
jede Pflanze lässt sich in Beeten ziehen.« Sie sah mich an. »Deshalb bin ich auch so froh über Mutter Immaculatas Erlaubnis. Mir fällt der Weg mit jedem Tag schwerer. Ich suche schon lange nach einer Nachfolgerin, die mir wenigstens diese Aufgabe abnimmt. Aber die anderen Mädchen kann ich nicht schicken. Selbst wenn ich ihnen beibringen könnte, wonach sie suchen sollen, sie sind hinter Klostermauern aufgewachsen, keines von ihnen weiß, wie man sich hier draußen verhält.«
Geistesabwesend bückte ich mich, um etwas Waldmeister zu pflücken. »Du willst, dass ich allein in den Wald gehe?« Es fiel mir schwer zu glauben, dass Agnes mit ein derartiges Vertrauen entgegenbrachte. Ich hatte ihr keinen Grund dazu gegeben.
»Warum nicht? Ich mache das seit fast vierzig Jahren.«
»Und Mutter Immaculata ist wirklich damit …?«
Sie unterbrach mich, bevor ich den Satz beenden konnte. »Sie weiß es, und sie erlaubt es. Du darfst das Kloster zum Kräuterpflücken verlassen, nur zum Kräuterpflücken.«
Ich fühlte mich plötzlich, als hätte sie mir den Wald geschenkt, als gehörte er ganz allein mir. »Dann werde ich alles tun, um dich nicht zu enttäuschen.«
Agnes lächelte. »Da bin ich mir sicher.«
Wir verbrachten den Tag im Wald. Agnes zeigte mir ihre Lieblingsplätze, erklärte mir, welche Kräuter ich wo finden konnte. Zwischendurch musste sie sich immer wieder auf einen Baumstamm setzen und warten, bis der Schmerz in ihrem Rücken zurückgegangen war.
»Ich könnte dir etwas Schmerzlinderndes anrühren, wenn wir wieder im Kloster sind«, bot ich an.
Agnes schüttelte den Kopf. »Der Schmerz ist ein Geschenk Gottes, wie unsere ehrwürdige Mutter stets zu sagen pflegt. Durch ihn kommen wir Christus näher. Lass sie nicht hören, dass du ihn lindern willst, denn das ist Teufelswerk.« Sie schüttelte den Kopf, als sei sie anderer Ansicht, und stand auf. »Lass uns zurückgehen, sonst verpassen wir noch die Vesper.«
Wir trennten uns im Klostergarten. Agnes ging zum Hospital, um dort den Waldmeister abzugeben, damit Schwester Ysentrud die bitteren Kräutertränke damit versüßen konnte, ich machte mich auf den Weg zur Kapelle.
Die Hymnen, die ich an diesem Abend sang, erschienen mir schöner als je zuvor, und in jedem Psalm hörte ich das Lob Gottes. Wenn ich die Augen schloss, sah ich den Wald vor mir, und wenn ich sie wieder öffnete, erschienen mir die dunklen Mauern durchlässig und die Fenster wie ein Tor in die Freiheit, die ich erlangt hatte.
Ein neues Leben wartete dort draußen auf mich, das spürte ich.
Kapitel 15
Meine Ausflüge wurden immer länger. Anfangs lauschte ich noch auf die Kirchenglocken der Stadt und lief zum Stundengebet zurück zum Kloster, doch irgendwann nahm mich Schwester Maria beiseite und sagte, die Äbtissin würde es vorziehen, ich würde nicht bei allen Gebeten dabei sein und nicht jedes Mal verschwitzt und dreckverschmiert in die Kapelle stürmen. Wir einigten uns darauf, dass ich, wenn ich für das Hospital im Wald nach Kräutern suchte, die Sext und die Non ausfallen lassen durfte. Von da an verließ ich, wann immer es das Wetter erlaubte, das Kloster bereits am späten Morgen und kehrte erst zur Vesper zurück.
Ich wagte nicht, über die Märkte zu gehen oder durch die Stadt zu streifen, auch wenn ich liebend gern den Gewürzmarkt besucht hätte, auf dem Schwester Ursula zum Osterfest Gewürze aus Outremer gekauft hatte. Sie stammten, so hörte ich von Agnes, aus Konstantinopel, wo auch immer das sein mochte. Jedenfalls klang es ferner und fremder als jeder andere Ort, von dem ich je gehört hatte.
Sehen würde ich weder Konstantinopel noch den Gewürzmarkt, aber solange mir niemand den Wald nahm, störte mich das nicht.
Ich ging tief in den Wald hinein, dorthin, wo es keine Wege mehr gab und ich niemandem begegnen würde. Mein Blick wurde schon bald so gut, meine Augen so scharf, dass ich Kräuter fand, ohne konzentriert danach zu suchen. Ich ließ meinen Gedanken freien Lauf, sorgte aber immer dafür, dass ich genügend Kräuter sammelte, um die Länge meiner Ausflüge zu rechtfertigen. Mein Lieblingsplatz wurde ein kleiner Teich inmitten einer Lichtung tief im Wald. Seine Ufer waren mit Schilf und Brunnenkresse bewachsen, auf dem Wasser schwammen Seerosen. Mädesüß und Waldmeister wuchsen zwischen dem hohen Gras.
Es war Frühling, und der Duft der Blüten hing schwer und süß in der Luft, und der Tag, an dem ich ihn das erste Mal sah, war sonnig und
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