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Die Nonne und der Tod

Die Nonne und der Tod

Titel: Die Nonne und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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gewundert, dass jemand ausgerechnet am selben Tag wie wir nach Schafgarbe sucht.«
    Agnes murmelte etwas, was ich nicht verstand, dann nahmen wir den Weg, der zwischen den Äckern und dem Wald entlangführte. Wir sahen mehrere Bauern, die versuchten, mithilfe eines Ochsen einen alten Baumstumpf aus dem Boden zu ziehen, und Leute, die sie dabei beobachteten und Ratschläge gaben, die wir selbst am Waldrand noch verstehen konnten; wir sahen auch andere, die mit gekrümmten Rücken auf den Roggenfeldern arbeiteten. Jeder von ihnen hätte die Schafgarbe abschneiden können, trotzdem glaubte ich zu wissen, dass sie es nicht getan hatten.
    Also sah ich mich weiter um, während Agnes den Wegesrand absuchte. Der Pfad war so schmal, dass wir hintereinander hergehen mussten. Die Bauern, die uns bemerkten, grüßten freundlich, aber niemand sprach uns an. Die Nonnentracht war wie ein Vorhang, der uns von der Welt trennte.
    Als wir außer Sichtweite der Bauern waren, drehte sich Agnes zu mir um. »Geh schon mal vor, ich muss mich nur kurz hinhocken.« Sie verschwand hinter einigen Sträuchern.
    Ich ging weiter, langsamer als zuvor, damit sie mich einholen konnte, und lauschte auf die Geräusche des Waldes. Vögel sangen trotz des trüben Wetters, und Bienen summten an mir vorbei.
    Und dann sah ich ihn. Keine zehn Schritte von mir entfernt stand er auf dem Weg, mit Schafgarbe in der Hand und einem verlegen wirkenden Lächeln auf den Lippen, so als ahnte er, dass er und ich die gleichen Pflanzen suchten. Ich wandte den Kopf, fürchtete bereits, Schwester Agnes zu sehen, aber da war niemand. Als ich mich wieder umdrehte, machte der Mann einen Schritt auf mich zu und hielt mir die Schafgarbe hin, so wie ein Verehrer einen Blumenstrauß.
    Ich hob abwehrend die Hände, versuchte, ihn mit Gesten dazu zu bringen, den Weg zu verlassen, bevor Schwester Agnes ihn bemerkte. Ich konnte nichts sagen, konnte ihn nicht warnen, ohne dass sie mich gehört hätte.
    Er blieb stehen. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, an seine Stelle trat Verwirrung, gefolgt von einer so tiefen Enttäuschung, dass ich einen Moment lang jede Vorsicht vergaß und ihn aufhalten wollte. Doch da hatte er sich bereits abgewandt. Drei, vier schnelle Schritte, dann war er im Unterholz verschwunden.
    »Was wedelst du denn da herum?«, fragte Agnes hinter mir.
    Ich wandte erneut den Kopf und sah, wie sie sich die Schürze glatt strich. »Nur eine Wespe«, sagte ich. Es war das Erste, was mir einfiel.
    »Wenn du nicht nach ihnen schlägst, stechen sie auch nicht.« Agnes klang wie meine Mutter, aber ich hörte ihr kaum zu.
    Eine Wespe , dachte ich. So muss es auch für ihn ausgesehen haben – als hätte ich etwas Lästiges verscheucht.
    Agnes drängte sich an mir vorbei. Sie mochte es nicht, wenn sie hinter anderen hergehen musste. »Wir werden noch den ganzen Tag hier verbringen«, sagte sie, »aber meine Arbeit kümmert ja keinen. So eine Novizin, ja, da …«
    Sie unterbrach sich und blieb so abrupt stehen, dass ich beinahe gegen sie gelaufen wäre.
    »Sieh mal.« Agnes bückte sich und hob eine Handvoll Schafgarbe auf. »Die hat wohl jemand verloren.«
    Mit einer Hand öffnete sie die Kräutertasche, die an ihrem Gürtel hing, und steckte die grünen Stängel mit ihren kleinen weißen Blüten hinein. Einige fielen zu Boden, und ich hob sie auf, hielt sie einen Moment zwischen meinen Fingern. Wir waren uns noch nie so nahe gewesen und doch noch nie so fern.
    »Willst du sie nach Hause tragen oder mir geben?«, fragte Agnes. Sie klang freundlicher als vorher, fast schon fröhlich. Ihre Laune hatte sich erheblich gebessert.
    Ich reichte ihr die Pflanzen nicht, sondern steckte sie gleich in die Tasche. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, Agnes wollte sich wegdrehen, so als hätte sie etwas dagegen, dass ich ihre Tasche berührte. Aber ich schob die Schafgarbe bereits hinein – und dabei sah ich kleine grüne Blätter zwischen den weißen Blüten.
    Ich runzelte die Stirn. Engelwurz?
    »So.« Agnes klappte die Tasche zu. »Wenn du willst, kannst du noch hierbleiben und deine eigene Arbeit erledigen, aber ich gehe zurück.«
    »Nein, ich komme mit«, sagte ich. »Es sieht nach Regen aus.«
    Sie widersprach mir zwar, aber ich hörte nicht zu. Meine Gedanken wogten von einer Seite zur anderen, von meinem unbekannten Freund zu dem Engelwurz in Agnes’ Tasche.
    Engelwurz war keine seltene Pflanze, ich hatte allein vier davon auf dem Weg am Wald entlang gesehen,

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