Die Nonne und der Tod
auch.«
Benedikta beugte sich vor und sah mich aus ihren unschuldigen großen Augen an. »Du hast nur die Wahrheit gesagt, du musst dir keine Sorgen machen. Im Gegenteil, Gott wird dich für deine Ehrlichkeit belohnen.« Sie verschränkte die Arme vor dem Bauch und steckte die Hände in die Ärmel ihrer Tracht. Es war eine seltsame Geste, so als wolle sie etwas schützen, aber das fiel mir erst später auf.
»Schwester Johannita aber nicht«, sagte ich, bemüht, die Unterhaltung nicht wieder in eine Richtung zu führen, in der Benedikta ihre Bewunderung für mich äußern konnte.
»Sie ist eine Blinde unter Blinden, Ketlin. Was hier vorgeht, sieht sie nicht, du aber schon und ich auch. All das Getratsche, all die Hinterhältigkeit … Würden unsere Schwestern wirklich ihren Nächsten lieben, müssten sie den Konversinnen jeden Tag die Füße waschen, so wie es die ehrwürdige Mutter sonntags tut. Stattdessen aber führen sie sich wie Herrinnen auf, und sie schlafen, wenn sie beten sollten, das habe ich schon gesehen, und tuscheln nachts, wenn sie schlafen sollten. Sie legen falsch Zeugnis ab, lassen sich heimlich Essen ins Kloster bringen. Alle hier sind voller Sünde!«
Benediktas Augen leuchteten. Es kam mir vor, als hätten meine Worte einen Damm eingerissen, der ihre Enttäuschung und ihren Ärger bisher zurückgehalten hatte.
Sie hat keine Ahnung, was ich wirklich gemeint habe , dachte ich und hoffte, dass sie nicht die Einzige war.
Ich wollte ihren Wortschwall unterbrechen, aber sie ließ es nicht zu. »Aber du und ich sind anders. Wir versuchen, unserem Herrn Jesus Christus nachzueifern, du weit mehr als ich.«
»Benedikta …«
»Lass mich ausreden«, fiel sie mir ins Wort, »denn ich möchte, dass du die Hoffnung nicht verlierst. Es wird etwas Wunderbares geschehen, Ketlin, hier in diesem Sündenpfuhl. Nur die ehrwürdige Mutter und jetzt auch du wisst davon. Behalte diesen Gedanken in deinem Herzen, ich verspreche dir, du wirst nicht enttäuscht sein.«
Die Glocke, die uns zur Vesper rief, hallte durch die Gänge. Benedikta stand auf. »Bete für mich, Ketlin, bete, dass ich mich würdig erweise.«
»Das werde ich«, sagte ich, ohne zu wissen, wovon sie sprach. Benedikta hatte auf mich schon immer einen entrückten Eindruck gemacht, doch in diesem Moment fragte ich mich zum ersten Mal, ob Gott vielleicht ihren Verstand getrübt hatte.
Ich wartete, bis ihre Schritte auf dem Gang verklungen waren, dann folgte ich ihr zur Kapelle. Nach dem, was ich im Hof gesagt hatte, war es besser, wenn ich mit ihr nicht gesehen wurde. Ich wollte nicht, dass sie in etwas hineingezogen wurde, das sie nicht verstand.
Ich verbrachte die Vesper allein, ebenso das Abendessen. Niemand setzte sich neben mich, alle hielten Abstand zu mir, als wäre ich vom Aussatz befallen. Aber sie musterten mich unter ihren Hauben hervor, doch diesmal nicht nur mich, sondern auch Schwester Johannita und Mutter Immaculata.
Nach dem Abendessen wartete ich darauf, in die Schreibstube der Äbtissin gerufen zu werden, doch nichts geschah. Unbehelligt konnte ich zu meiner Zelle gehen und wenig später zur Komplet.
Erst als ich aus der Kapelle zurückgekehrt war und in der Zelle meine Bettdecke ausschüttelte, suchte mich doch noch jemand auf.
»Wir müssen über das reden, was du heute gesagt hast.« Schwester Marias Gesicht wirkte im Schein des Kerzenleuchters, den sie in einer Hand hielt, übernächtigt. Es überraschte mich, dass die ehrwürdige Mutter sie geschickt hatte und nicht Johannita.
»Das war dumm von mir«, sagte ich ehrlich. »Ich hätte das nicht sagen sollen.«
Maria blieb an der Tür stehen. »Dafür ist es jetzt leider zu spät. Ich nehme an, dass du etwas beobachtet oder mitgehört hast, richtig?« Sie hob den Kerzenleuchter, um meine Reaktion besser erkennen zu können.
Ich nickte.
»Besteht die Möglichkeit, dass du das Gesehene oder Gehörte falsch verstanden hast?«
Ich dachte einen Moment darüber nach, dann nickte ich erneut, wenn auch zögernd.
»Würdest du das vor allen eingestehen, wenn die ehrwürdige Mutter dich darum bitten sollte?«
Ihre Fragen hatten mich auf einen Weg geführt, den ich nicht weitergehen wollte. »Nur, wenn ich die Wahrheit erfahre.«
»Und wenn dich die Sache nichts angeht?«, fragte Maria. Ein scharfer Unterton hatte sich in ihre Stimme geschlichen.
»Kennst du die Wahrheit?«, fragte ich zurück. »Weißt du, was das, was ich gesehen habe, wirklich bedeutet?«
»Ich
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