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Die Nonne und der Tod

Die Nonne und der Tod

Titel: Die Nonne und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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den Ästen und Zweigen saßen, beobachteten mich, als ich meine Kleidung auseinanderfaltete und sie ins taubedeckte Gras legte. Sie rochen nach Weihrauch und kaltem, hartem Stein, Gerüche einer Welt, die ich nie wieder betreten wollte.
    Ich begann die Nonnentracht abzulegen, zuerst die Haube, unter der mein Haar schweißnass und verklebt war, dann die Kordel, mit der die Schürze zusammengehalten wurde, dann den schweren Wollrock. Die Stimmen der Vögel wurden lauter, mein Körper mit jeder Schicht Kleidung, die er verlor, leichter.
    Schließlich stand ich nackt da. Einen Moment lang blieb ich so stehen. Der Wind strich über meine Haut, trocknete mein Haar. Ich glaubte, Jacobs Hände in der Brise zu spüren.
    Ich werde ihn finden, dachte ich. Gott hat uns nicht zusammengebracht, damit Stadttore uns trennen.
    Meine Kleidung würde nicht besser riechen, egal, wie lange ich sie im Gras liegen ließ. Ich schlüpfte in Rock und Hemd und erschrak, als ich bemerkte, dass sie zu groß geworden waren. Ich musste die Kordel um meine Hüften binden, sonst wäre der Rock nach unten gerutscht. Wie viel an Gewicht hatte ich seit dem Tag verloren, als ich aus meinem Heimatdorf geflohen war?
    Bei diesem Gedanken erwartete ich, dass mich die Bilder meiner Mutter wieder heimsuchten, wie ich sie in Rauch und Hitze zurückgelassen hatte, aber diese Erinnerung verblasste allmählich, wurde abgelöst von anderen, neuen, sogar glücklichen Erinnerungen. Ich war froh darüber, auch wenn mir zugleich klar wurde, dass damit auch die Erinnerung an meine Mutter vergehen würde. Aber vielleicht war auch das besser so.
    Schließlich kletterte ich über die Mauer, die das Kloster und seine Gärten umgab. Das Kloster war eine Ausnahme in der ansonsten so eng besiedelten Stadt. Seine Gärten innerhalb der Mauern sorgten für die Ruhe und Abgeschiedenheit, die man mit dem Leben einer Nonne verband. Doch nach nur wenigen Schritten befand ich mich in der Enge der Stadt mit ihren schmalen Gassen. Ich war nicht mehr daran gewöhnt, ging wie ein staunendes Kind durch die Straßen, vorbei an Hütten, die man, um Platz zu sparen, auf anderen gebaut hatte und die nur über Leitern und Dächer zu erreichen waren.
    Mit jedem Schritt, den ich tat, wurde die Stadt lauter, der Gestank größer. Ich war eine Fremde in dieser Stadt, zuerst das Mädchen aus dem Dorf, nun die Nonne aus dem Kloster. Und doch bemerkte ich, je tiefer ich in sie eindrang, je näher ich dem Dom und damit ihrem Herzen kam, dass sich die Stadt verändert hatte.
    Ratten lagen überall herum, in Hauseingängen und in den offenen Abwasserkanälen, auf den Straßen und hinter den Hütten, aufgedunsen und tot. Doch schon bevor ich sie bemerkte, fiel mir etwas anderes auf, schwerer fassbar als der Anblick so vieler toter Tiere.
    Es war der Tonfall der Stadt. Ich hörte es in den Stimmen der Menschen um mich herum.
    »Wenn du kein Brot findest, musst du erst gar nicht wiederkommen«, schrie eine Frau aus der offenen Tür einer Hütte, während der Mann, der wohl gemeint war, abwinkte und mit gesenktem Kopf in einer Gasse verschwand.
    »Darf sich keiner wundern, wenn’s losgeht, bei all dem Pack!«, maulte ein ärmlich wirkender Mann, der sich mit einem anderen, älteren unterhielt, während beide an mir vorbeigingen.
    Es war das Lied einer großen Stadt, angefüllt mit all den Geschichten, die sich dort abspielten, aber es klang falsch , so wie das Spiel einer schlecht gestimmten Laute.
    Mir wurde mulmig zumute. Obwohl mich niemand ansah und ich nicht bedroht wurde, hatte ich das Gefühl, nicht sicher zu sein. Ich schob es auf die lange Zeit im Kloster und ging weiter, vorbei an den toten Ratten und Menschen, die sie mit dem Fuß zur Seite schoben.
    Ich wusste nicht, wo ich Jacobs Lehrmeister Erasmus finden konnte, aber da schien ich die Einzige in der Stadt zu sein. Die erste Person, die ich deswegen ansprach, eine Magd, sah mich an, als wäre ich gerade aus einem Erdloch gekrochen, und fragte: »Apotheker Erasmus? Der Apotheker Erasmus?«
    Ich nickte, weil ich nicht annahm, dass es mehrere mit diesem Namen gab.
    »Seine Apotheke ist direkt hinter dem Dom. Früher befand sie sich in einer Seitenstraße in der Nähe vom Rathaus, aber vor ein paar Jahren hat er das Haus am Dom neu bauen lassen. Mein Cousin hat als Arbeiter mitgeholfen. Er sagte, die Türen im Haus wären goldbeschlagen.«
    Sie sah mich an, als erwarte sie etwas. Ich wusste nicht, was, also nickte ich und lächelte.

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