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Die Nonne und der Tod

Die Nonne und der Tod

Titel: Die Nonne und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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sie erwartet, dass Erasmus ihnen davon abriet, Möhren zu essen oder kalten Wein zu trinken.
    »Ihr denkt, Luft wäre nur Luft, nicht wahr?«, rief Erasmus. »Aber wenn dem so ist, warum stinkt es, wenn ihr an einer Abwasserrinne vorbeigeht?« Er hob die Hand, in der er die Holzschatulle hielt. »Die Abwässer sind da unten, zu euren Füßen, warum also beleidigen sie eure Nase?« Einige begannen zögerlich zu nicken. »Und wenn ihr in einer Kirche kniet, riecht ihr den Weihrauch, selbst wenn ihr in der hintersten Bank sitzt und den Rauch nicht sehen könnt.«
    Einige raunten zustimmend.
    Erasmus lächelte. »Die Luft transportiert den Geruch, so wie ein Karren Heu transportiert. Sie kann eure Nase beleidigen und eure Seele erfreuen, und wenn sich ihrer der Teufel bemächtigt, so wie er sich der Seelen der Schwachen und der Sünder bemächtigt, kann sie euch auch umbringen!«
    Die Frau neben mir presste sich mit einem erschrockenen Laut die Hand vor Mund und Nase. Andere wichen zurück, blieben dann aber stehen, so als wäre ihnen schlagartig klar geworden, dass man vor der Luft nicht fliehen konnte.
    »Ich weiß, was euch nun durch den Kopf geht«, rief Erasmus. »Wie soll man sich vor der Luft schützen? Kann es ein Mittel geben gegen etwas, das man weder sehen noch hören kann?«
    Es war, als spräche er die Gedanken eines jeden Menschen in der Menge aus. Ich begann flach zu atmen, hoffte, dass die Seuche nicht gerade in den Atemzügen hing, die ich tat.
    »Sag es uns!«, schrie jemand. Andere nickten und wiederholten die Forderung.
    Erasmus hob die Arme. Die weiten Ärmel seines Hemdes rutschten bis zu den Ellenbogen und enthüllten bleiche, dunkel behaarte Haut. »Habt keine Angst!« Er rollte die Schriftrolle auseinander und drehte sich, sodass jeder die Linien, Kreise und Zahlen darauf sehen konnte. Für mich ergaben sie keinen Sinn.
    »Was ist das?«, rief jemand.
    »Mit Gottes Hilfe habe ich einen Weg gefunden!« Erasmus rollte das Papier wieder zusammen und reichte es einem Diener, der neben der Bühne stand. Ich bemerkte einen Stapel Kisten hinter ihm. »Nächtelang habe ich gebetet und Gott um Gnade für uns angefleht. Und dann, in einem Traum …«, Erasmus hob wieder die Holzschatulle empor, »… zeigte er mir die Lösung.«
    Die Menge rückte näher an das Podest heran. Ich wurde mit ihr nach vorn gedrückt. Durch die Lücke zwischen den Schultern zweier Männer sah ich, wie der Apotheker die Schatulle öffnete und nach etwas darin griff.
    »Seht alle her, seht sie euch an. Meine Seuchenmaske.« Er schrie das letzte Wort über den Platz. Mit einem Ruck riss er die Hand empor, in der er das hielt, was er der Schatulle entnommen hatte.
    Die Menge wurde still, nicht aus Ehrfurcht, sondern – wenn es den anderen so ging wie mir – aus Verwirrung. Wir starrten auf den Gegenstand, den Erasmus in der Hand hielt. Es war eine Maske, so wie er gesagt hatte, aus dunklem poliertem Holz mit zwei Aussparungen für die Augen. Lederriemen hingen an den Seiten herab. Ich nahm an, dass man sie damit am Hinterkopf befestigte. Am auffälligsten daran war der fast unterarmlange Vogelschnabel, der dünn und spitz aus der Maske hervorragte.
    Erasmus schien mit der Reaktion der Menge gerechnet zu haben, denn er zeigte weder Ärger noch Bestürzung, sondern eine seltsame Zufriedenheit, als wäre unsere Verwirrung die Bestätigung seiner Arbeit. Er stellte die Schatulle neben sich auf das Podest und nahm die Maske in beide Hände.
    »Der Schnabel ist hohl«, sagte er in die Stille. »Durch ihn werdet ihr atmen. An seiner Spitze …«, er steckte den Zeigefinger hinein, »… befindet sich ein Loch, und in das wird ein mit meiner geheimen Tinktur getränktes Tuch geschoben.«
    Sein Diener reichte ihm ein verkorktes Fläschchen. Erasmus öffnete es und träufelte eine bräunliche Flüssigkeit auf ein Stück Stoff. Er schob das Tuch in den Schnabel, sah sich unter den Menschen um und zeigte dann auf einen vornehm wirkenden älteren Mann.
    »Ratsherr Franz«, sagte er. »Würdest du mir die Ehre erweisen, die Maske auszuprobieren? Ich kann dir versichern, dass die Tinktur völlig ungefährlich ist.«
    Franz zögerte, aber seine Frau schob ihn nach vorn. Einige lachten, als er sich furchtsam umblickte, das Gesicht ängstlich verzogen. Dann ging er zögerlich auf Erasmus zu, stieg auf das Podest, und der Apotheker legte ihm die Maske an.
    Mir lief ein Schauer über den Rücken, als sich der Ratsherr zu uns umdrehte. Sein Gesicht

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