Die Nonne und der Tod
vorbei und richtete sich erst auf mich, als ich ihn ansprach.
»Dürfte ich um einen Moment Eurer Zeit bitten?«, fragte ich so vornehm wie möglich.
»Wessen Dienerin bist du?«, fragte er zurück.
»Ich bin keine Dienerin. Ich möchte nur …«
»Dann bezweifle ich, dass für mich wichtig sein könnte, was du zu sagen hast.« Sein Blick löste sich von meinem Gesicht. »Geh deiner Wege. Ich habe nichts zu verschenken.«
»Ich will keine Maske«, sagte ich rasch. »Ich habe nur eine Frage, die deinen …«
Ein Stoß in die Seite raubte mir den Atem. Ich taumelte zurück und wäre beinahe in die Abwasserrinne gestolpert, wenn mich nicht jemand aufgefangen hätte. Es war ein älterer graubärtiger Mann, der die Uniform eines Dieners trug mit einem Wappen auf der Brust, das mir vage bekannt vorkam.
»Danke«, sagte ich.
Er nickte und warf einen Blick auf die aufgeregte, rotgesichtige Frau, die mich weggestoßen hatte. »Manche Leute werden zu Tieren, wenn die Angst sie übermannt.«
Ich glaubte wieder die Menge vor der Tür unserer Hütte zu sehen, hörte ihr Schreien und die Furcht darin.
Alle werden zu Tieren, dachte ich. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Die Frau redete auf Erasmus ein und schüttelte immer wieder aufgeregt den Kopf. Es war klar, was sie wollte, und ebenso klar, dass sie es nicht bekommen würde. Ihre Stimme wurde lauter, ihr Flehen drängender. Köpfe drehten sich, und Blicke wurden in ihre Richtung geworfen. Die Menge ahnte, dass ihr ein Spektakel bevorstand.
Lorenz bemerkte zwar, dass sein Herr in Bedrängnis geriet, er wurde aber selbst von so vielen Menschen belagert, dass er nichts unternehmen konnte. Hätte er die Kisten allein gelassen, um Erasmus beizustehen, wäre bei seiner Rückkehr wahrscheinlich keine mehr da gewesen.
Die Frau wurde immer lauter. Sie flehte Erasmus um eine Maske an: »Nur eine! Meine Söhne und ich können sie uns teilen!« Sie versprach ihm Ländereien zu verkaufen, um das nötige Geld aufzubringen, dann bot sie ihm sich selbst an und riss sich das Hemd auf, um ihre Brüste zu entblößen.
Erasmus wich zurück, einige Männer in der Menge lachten, die Frauen legten erschrocken die Hand vor den Mund. Der ältere Diener neben mir fluchte und öffnete den Verschluss seines Umhangs.
»Komm, hilf mir«, sagte er.
Ich folgte ihm, ohne nachzudenken. Wenn die Soldaten sie sahen, würde sie schon am nächsten Tag am Pranger stehen oder musste Schlimmeres erleiden.
Der Diener warf seinen Umhang über die Schultern der Frau, so als wolle er einen Vogel fangen, ich umklammerte sie und zog sie von Erasmus weg und zum Rand der Menge. Sie wehrte sich nicht, verbarg nur ihr Gesicht im Umhang und weinte. Der Teufel, der über sie gekommen war, hatte sie bereits wieder verlassen.
»Ich schäme mich so«, stieß sie immer wieder hervor.
»Keine Angst.« Ich zeigte auf einen Durchgang zwischen zwei Häusern. Der Diener nickte und half mir, die Frau dorthin zu führen.
»Das hast du gut gemacht«, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir – eine Stimme, die ich kannte. »Das hätte für alle Beteiligten sehr unangenehm enden kön…«
Friedrich von Wallnen, der Berater von Bürgermeister Wilbolt, brach mitten im Wort ab, als ich herumfuhr. Bei Tageslicht wirkte er noch älter und gebrechlicher. Die Hand, mit der er sich auf einen schwarzen polierten Stock stützte, zitterte.
»Geh zurück zum Bürgermeister, Walther«, sagte er nach einem Moment der Überraschung zu dem Diener. »Ich kümmere mich … um das hier .«
Ich folgte dem Diener mit meinen Blicken, als er zur Menge zurückging. Er blieb neben einem Mann in Mutters Alter stehen, der von zwei kleinen Mädchen, einer vornehm wirkenden hübschen Frau und mehreren Dienern umgeben war. Jeder der Diener trug eine der Holzkisten, die Lorenz verkaufte. Die Summe, die sie gekostet hatten, erschien mir unvorstellbar.
Ich versuchte, in das Gesicht des Mannes zu blicken, den ich für meinen Vater hielt. Keine fünf Schritte von ihm entfernt hatte ich gestanden.
Ich sah recht kurz geschnittenes graublondes Haar unter einem mit Pelz besetzten Hut und einen sorgfältig gestutzten Vollbart. Seine Miene wirkte freundlich, sein Gesicht war voll und faltenlos, so als habe es in seinem Leben nie große Sorgen gegeben. Er war ein gütiger Mann, das sah ich ihm an.
»Wo ist deine Tracht?«
Von Wallnens Frage riss mich aus meinen Gedanken. Die rotgesichtige Frau hockte in dem kleinen Durchgang und versuchte mit zitternden
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