Die Nonne und die Hure
haben, laden wir dich ein, mit uns zum Karneval zu gehen. Du hattest sicher noch nicht viel Gelegenheit dazu.«
Nach einer leichten Verbeugung antwortete Celina, so wie man es von ihr erwartete: »Ich freue mich, mit euch gehen zu können. Ein bisschen Abwechslung zum eintönigen Klosterleben kann nicht schaden.«
»Wir haben die Äbtissin schon gefragt«, setzte der Onkel hinzu. »Sie erlaubt dir, mit uns zu gehen. Doch bei Einbruch der Dunkelheit musst du wieder im Kloster sein.«
Celina eilte in die Kleiderkammer, um sich für den Stadtgang umzuziehen. Dort wurden einige Kleider aufbewahrt, die sie früher getragen hatte. Die Nonne, die den Schlüssel zur Kleiderkammer besaß, zwinkerte ihr zu.
Zwischen ihren Verwandten trat Celina aus dem Klostertor ins Freie. Trotz der Abwechslungen, die das Kloster wider Erwarten zu bieten hatte, war es ihr, als entsteige sie einer Gruft. Das Wetter war angenehm mild für diese Jahreszeit. Während sie an den Kanälen entlang zum Markusplatz gingen, atmete Celina den brackigen Geruch ein.Immer wieder schwebten süße Düfte von Gebackenem herüber. In den Gassen sangen und tanzten die Menschen. An den Ecken gab es Stände, an denen über offenem Feuer Bratwürste und knusprige Spieße brutzelten. Als sie den Dom passiert hatten, sah Celina dort, wo der Canale Grande sich zur Lagune hin öffnet, die beiden Säulen mit dem Heiligen Teodoro und dem venezianischen Löwen stehen. Der Löwe symbolisierte die Macht der Serenissima. Zwischen den Säulen ging niemand hindurch, und es hielt sich auch keiner dort auf, denn das sollte angeblich Unglück bringen. Es war der Hinrichtungsplatz der Stadt.
Auf dem Markusplatz herrschte ein einziges buntes Gewoge, Schalmeien- und Lautenklänge drangen an Celinas Ohr. Harlekins, Osmanen mit Turbanen und bunten Schärpen sprangen herum, Schäferinnen und Schäfer, Mohren, Königinnen aus dem Morgenland, wilde Tiere, Nymphen, Burgfräuleins und Ritter. An einigen Stellen hatten die Menschen Pyramiden gebildet, auf deren Spitze triumphierend junge Mädchen oder Kinder standen.
Celina und ihre beiden Verwandten brauchten einige Zeit, um sich ihren Weg durch die Menge zu bahnen. In einer Seitengasse kaufte Eugenio eine Colombina-Maske für seine Nichte, die Nase und Augen bedeckte und am oberen Rand mit feinem Blattgold verziert war. Celina hatte das Gefühl, in eine andere Rolle zu schlüpfen, die anderen zu sehen, aber nicht mehr gesehen zu werden. Dazu bekam sie einen Hut, auf dem lange, weiche Federn wippten.
Über den Campo San Luca und vorbei an der Kirche San Salvatore erreichten sie die Rialtobrücke, nicht weit von dem Fondaco dei Tedeschi. Auch hier wurde der Karneval lautstark und farbenfroh gefeiert. Auf dem Platz vor dem Fondaco waren Tische und Stühle ins Freie gestellt; maskierte fröhliche Menschen saßen dort in der Nachmittagssonne,aßen und tranken. Fondaco, das war doch der Handelshof, in dem Christoph wohnte. Während sie da saßen, gebratene Fische aßen und Wein aus Bechern tranken, schaute Celina immer wieder verstohlen zu den Fenstern des Gebäudes hinauf.
»Unsere Stadt ist die größte unter den italienischen Städten«, erklärte ihr Onkel voller Stolz, während er sich umschaute.
»Du hast recht, mein Lieber, hier lässt es sich angenehm leben«, pflichtete ihm seine Frau bei.
Was redeten die eigentlich? Celina spürte Zorn in sich aufwallen. Hatten sie überhaupt einen Begriff von dem, was sie ihr angetan hatten? Und sie sollte ihnen wohl noch dankbar sein, dass man sie nicht auf die Straße gesetzt hatte.
»Im Kloster merke ich nicht viel von dem, was in der Stadt vor sich geht«, sagte Celina und unterdrückte ihren Zorn. Mit einem Mal stutzte sie. Das Mädchen am Nebentisch, das war doch Nanna! Im selben Moment entdeckte Nanna auch Celina und machte eine Bewegung, als wolle sie die Flucht ergreifen. Celina stand auf und ging zu ihr hinüber. Beim Näherkommen bemerkte sie blaue Flecken um Nannas Augen herum, die sie mühsam unter einer hellen Schminke zu verbergen versuchte. Dann bemerkte sie auch den Begleiter Nannas, einen älteren Herrn, der Kleidung nach ein Adliger, wenn nicht Patrizier der Stadt. Wie kam Nanna zu dieser Bekanntschaft? Sie war doch Nonne im Kloster Convertite. War sie in Wahrheit vielleicht doch eine Hure?
»Nanna, wie freue ich mich, dich zu sehen«, sagte Celina.
»Sei gegrüßt«, antwortete Nanna einsilbig.
»Das Theaterstück, das ihr aufgeführt habt, war schön«, begann
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