Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Falconer
Vom Netzwerk:
hatte ich gewonnen, doch mein Sieg bereitete mir keine Freude. Im Gegenteil, er erfüllte mich mit Furcht. Ich hatte Angst, dass er unser Haus jetzt verlassen und nie mehr wiederkommen würde.
    »Vielleicht lasse ich mich doch noch umstimmen, Vater.«
    »Ich habe sämtliche Argumente vor Euch ausgebreitet. Ihr seid das verstockteste Geschöpf, das mir jemals begegnet ist.«
    »Falls ich nicht ins Kloster gehe – welche Zukunft seht Ihr dann für mich?«
    »Ihr werdet eine gute Ehefrau und Mutter sein. Genügt Euch das nicht?«
    »Würde das Gott denn besser gefallen?«
    »Ein tugendsames Leben ist der Weg des Heils, Madeleine de Peyrolles.«
    »Ein tugendsames Leben, Vater? Aber wenn ich die Kirche von Saint Gilles oder die Kathedrale des Heiligen Stefan betrete, spüre ich, wie mein Geist sich erhebt und wächst … Dann fühle ich, dass es mehr geben muss.« Meine Worte waren nur ein schwacher Ausdruck für das Gefühl von Vorsehung, das meine Visionen von der heiligen Jungfrau in mir geweckt hatten. Sie riefen in dem Mönch ein nachsichtiges Lächeln hervor, das mich rasend machte.
    »Wir alle haben derlei Empfindungen, Madeleine de Peyrolles. Das liegt an der Kunst der Steinmetze. Aus genau diesem Grund wohnt Euer Vater auch in einem Steinhaus in der Stadt – weil er solche Erfahrungen in anderen hervorzurufen vermag.«
    »Ich verstehe nicht …«
    »Lasst mich Euch die Kirche zeigen«, flüsterte er und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. »Beginnen wir mit den Säulen und Bögen, die sich im Hauptschiff bis hoch über unsere Köpfe erstrecken – wie die Dunkelheit des Waldes, aus dem wir zu entkommen suchen. Vor uns erblicken wir die Fensterrosette wie eine Sonne, und unter der Sonne den gekreuzigten Christus, der all unsere Schuld auf sich genommen hat und dessen Tod uns Erlösung verspricht. Seht, er wartet dort am Ende des langen Mittelgangs, am Ende unseres Lebensweges, dort am Altar unseres Todes, und verheißt uns die Auferstehung und das ewige Leben. Während wir ihm entgegenschreiten, betrachten wir rings um uns her die Heiligen und die Gobelins mit Szenen aus den Evangelien, denn unsere Kirche ist eine steinerne Bibel, in der wir die Antworten auf alle Rätsel und Fragen des Lebens finden. Wenn wir unser Ziel schon fast erreicht haben, blicken wir auf, folgen den aufsteigenden Linien der Baumeister und entdecken über uns das Licht des Himmels, das durch die Gaden strömt. Im Gewölbe erkennen wir das himmlische Jerusalem, das uns erwartet. Jede Kirche hat ihren eigenen Duft, ihr eigenes Licht, ihr eigenes Chiaroscuro, ihre eigene Weise, uns die Geschichte unseres Lebens zu erzählen und uns näher zu Gott zu bringen. Und wir erfreuen uns an dem Frieden, der uns dann erfüllt. Wenn wir die Kirche betreten, wird jeder einzelne von uns zur gesamten Menschheit, die Kathedrale zur ganzen Welt und das hereinfallende Licht zum göttlichen Geist, der die Dunkelheit vertreibt.«
    Ich betrachtete sein Antlitz, das sich während seiner Worte verwandelt hatte. Die Kraft des Glaubens ließ es wie durch ein inneres Licht erstrahlen. Voller Ehrfurcht starrte ich den Priester an. Er hatte Recht – sein Vater hatte für ihn die richtige Wahl getroffen.
    Doch dann kehrte er zurück von dem Ort, an den ihn seine Gedanken geführt hatten, und seine Miene verfinsterte sich wieder.
    »Aber bei all dem handelt es sich lediglich um Baukunst, die Ihr nicht mit Heiligkeit verwechseln dürft. Denn der Weg zu Gott besteht aus Schmerz, Reue und harter Arbeit.«
    Er seufzte und erhob sich. Auf dem Platz vor dem Haus wurde es langsam dunkel. Durch das geölte Leinen vor den Fenstern sickerte nur noch graues Dämmerlicht herein.
    »Ich muss gehen«, sagte er.
    Ich starrte ins Feuer. Als ich aufsah, war er fort.
    Meine Eltern hatten ihn wahrscheinlich das Haus verlassen sehen, denn kurz darauf kamen sie mit einer rußenden Talgkerze in den Händen die Treppe herunter. Sie blickten mich mit großen Augen an und schienen zum ersten Mal den Verdacht zu haben, dass etwas nicht stimmte.
    Warum sonst kam der Priester so oft her und blieb immer so lange? Und warum war ihre Tochter nach seinen Besuchen stets so erschöpft, so schweigsam und traurig?

BERNARD
    Toulouse ist der Ort, an dem Simon de Montfort fiel. Während seiner Belagerung der Stadt wurde ein Felsbrocken auf ihn geschleudert, der ihn zerquetschte. Man sagt, dass er bei der Auferstehung keinen schönen Anblick bieten wird, da der größte Teil seines Kopfes dort im Schlamm

Weitere Kostenlose Bücher