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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Falconer
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Irrsinn stand. Dass ich meine Tage in der Gosse einer Straße von Carcassonne oder Toulouse beschließen würde, mit Schaum vor dem Mund, Unflat auf meinen zerlumpten Kleidern und johlenden kleinen Jungen um mich herum, die Steine nach mir warfen.
    Der Wahnsinn ließ mich noch immer nicht aus seinen Klauen. Auf einmal vernahm ich das bekannte Summen in meinen Ohren, jenes Geräusch wie von einem Bienenschwarm, das meine Anfälle zu begleiten pflegte. Die seherische Gabe kehrte zurück wie eine Katze von der Jagd, um mir irgendeinen grausigen Kadaver vor die Füße zu legen. Meine Augen waren offen und hätten mein im gelben Sommerlicht schlummerndes Städtchen mit den roten Mauern erblicken sollen. Doch stattdessen sah ich einen Winter voller Tod, Verstümmelung und Trauer, eine Frau auf dem Scheiterhaufen und meinen eigenen Körper, der auf einem Karren aus der Stadt geschafft wurde.
    Und ich wusste, dass die Frau im blauen Umhang die Schuld daran trug.
     
    *
     
    Meine Mutter war in unserem Städtchen nicht nur als Heilerin bekannt, sondern auch als Hebamme. Die dazu nötigen Kenntnisse waren seit Generationen von den Müttern unserer Familie an die Töchter weitergegeben worden, und auch ich wurde in die Geheimnisse eingeweiht. Ich hatte bereits gelernt, einen Wickel anzulegen, der die giftigen Säfte aus Wunden zog. Und ich vermochte Tränke herzustellen, mit denen man Fieber und Ausfluss heilen und die Pestilenz abwehren konnte. Meine Mutter hatte mir erklärt, dass im Wald alle Kräuter, Rinden und Pflanzen zu finden sind, die ein guter Heiler jemals benötigt. Sie verachtete die Barbiere und Chirurgen mit ihren Aderlässen und Abführmitteln. Sie bezeichnete sie als Scharlatane und Metzger.
    Seitdem wir in Saint-Ybars lebten, hatte meine Mutter mehr als zwanzig Kinder auf die Welt geholt. Ich hatte sie häufig begleitet und dabei die Geheimnisse der Geburt kennen gelernt. Es war ein Furcht erregender Vorgang, den auch ich eines Tages würde ertragen müssen. Jedes Mal, wenn ich eine Frau in den Wehen liegen sah, dankte ich Gott, dass der Priester mich nicht geschwängert hatte.
    Wir wohnten in einem kleinen Haus im Schatten der Stadtmauer. Es war nicht so groß wie das Haus in Toulouse, aber recht gemütlich. In der Küche baumelten Schinken und Bündel von getrockneten Kräutern von den Deckenbalken, und stets hing ein Kessel über dem Feuer, in dem meine Mutter einen Heil- oder Stärkungstrank braute. Ihr Haar war mittlerweile beinahe vollkommen ergraut, aber sie bewegte sich noch immer schnell und umsichtig und war schlank wie eh und je.
    Als ich eintrat, schnitt sie gerade Gemüse klein und warf es in einen Topf. Aus meinem Gesicht war alles Blut gewichen. Es gelang mir nicht, ein Lächeln aufzusetzen und sie zu täuschen. Sie merkte auf der Stelle, dass etwas nicht stimmte.
    »Geht es dir gut, Mädchen?« Sie legte das Messer hin, stand auf und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Ist dir im Wald etwas zugestoßen?«
    Ich verspürte den Drang, es ihr zu erzählen, aber ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte.
    »Dein Gesicht ist so weiß wie die Statue der Jungfrau in unserer Kirche«, stellte sie fest. Es erstaunte mich, dass sie gerade jetzt die Madonna erwähnte. Ich musste ihr unbedingt sagen, was ich gesehen hatte. Sie sollte mir bestätigen, dass ich nicht verrückt war.
    »Ich habe auf dem Berg etwas gesehen«, stammelte ich.
    »Was? Was hast du gesehen?«
    »Eine Frau … aber dann verschwand sie. Ich weiß nicht … ich glaube, es war die Madonna.«
    »Die Madonna?«
    Damals waren Wunder nichts Ungewöhnliches. Es gab Kirchen mit Marienstatuen, die zu gewissen Zeiten blutige Tränen weinten – so wurde zumindest behauptet. Aber einem unbedeutenden Mädchen wie mir konnte kein Wunder begegnen, und viele Menschen hätten mein Geständnis mit Unglauben und Verachtung aufgenommen.
    Doch meine Mutter war in Saint-Ybars aufgewachsen, sie kannte die Berge und ihre Legenden und möglicherweise hatte sie schon immer vermutet, dass ich diese Gabe besaß. Nichtsdestotrotz suchten ihre Augen in meinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass ich Schabernack trieb. Doch vergeblich.
    »Die Jungfrau?«, flüsterte sie schließlich. »Woher weißt du, dass es die Jungfrau war?«
    »Sie sah genauso aus wie in der Kirche von Saint Gilles.«
    »Vielleicht hast du dir das nur eingebildet …«
    »Es war nicht das erste Mal«, flüsterte ich und erzählte ihr dann von der Statue, die zu mir gesprochen hatte

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