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Die Novizin

Die Novizin

Titel: Die Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Falconer
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liebreizendste Frau, die ich jemals gesehen hatte, nur existierte sie nicht wirklich.
    In jenem Sommer im Jahre des Herrn zwölfhundertfünfundsechzig war ich einundzwanzig Jahre alt. Seit meiner ersten Blutung sah ich Dinge, die andere nicht sehen konnten, und hörte Laute, die aus der Welt der Geister zu kommen schienen.
    Doch ich hatte Stillschweigen bewahrt. Ich hatte versucht, keine Aufmerksamkeit zu erregen.
    Es war früh am Morgen, mitten im Sommer. Der Dunst, der sich später im heißen Sonnenschein auflösen würde, hing noch zwischen den Kiefern und Kastanien und verbarg die Sicht auf die entfernten blauen Gipfel der Pyrenäen. Ich war von der Stadt heraufgekommen, um eine bestimmte Art von Beere zu suchen, die meine Mutter für ein Heilmittel gegen Ausfluss benötigte. Der kleine Sohn unseres Nachbarn sollte damit behandelt werden. Meine Mutter war eine bekannte Heilerin, die von den Stadtbewohnern oft um Hilfe gebeten wurde.
    Die Kalksteinhügel dieser Gegend sind voller Höhlen – einige davon sind natürlichen Ursprungs, andere stammen aus den Zeiten, als die Römer hier nach Gold suchten. In diesen Höhlen hielten Bären ihren Winterschlaf, und man sagte, dass sich die Katharer während der großen Massaker zu Lebzeiten meines Großvaters dort versteckten.
    Die Frau musste aus einer der Höhlen getreten sein. Ich wanderte mit meinem Korb über dem Arm den Hügel hinauf und sah einen Moment lang zu Boden. Als ich wieder aufblickte, saß sie am Rande eines schwarzen Tümpels am Fuß des Felsens und beobachtete mich.
    Ihr Haupt war bedeckt, und sie trug einen bodenlangen blauen Umhang über einem roten Oberkleid. Ich nahm an, dass sie eine Pilgerin war oder womöglich sogar eine Katharerin, da es hieß, dass einige immer noch dort oben lebten.
    Sie erhob sich und lächelte mir mit einer solchen Anmut und Wärme zu, als wäre sie eine alte Freundin, die auf mich gewartet hatte. Ich blieb stehen und starrte sie unverhohlen an.
    Sie sah genauso aus wie auf ihrem Sockel in der Kirche von Saint Gilles in Toulouse. Ich hatte keinen Zweifel, dass ich der Madonna gegenüberstand.
    Ihre Augen – ihre Augen waren vom reinsten Meeresblau, dessen ich bis dahin nur einmal in meinem kurzen Leben ansichtig geworden war. Dennoch erschien sie nicht so, wie ich mir eine Heilige vorstellte, weder schimmerte ihre Kleidung noch trug sie einen goldenen Heiligenschein um den Kopf. Ich konnte dunkle Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken erkennen, und genau wie ich hatte auch sie den offenen Blick eines Mädchens aus dem Volk.
    Ich trat zögernd einen Schritt auf sie zu, doch dann überwältigte mich die Furcht, und ich wich zurück. Als ich abermals hinsah, war die Frau im blauen Umhang fort.
    Ich berührte den Stein, auf dem sie gesessen hatte. Er war völlig kalt.
     
    *
     
    Ich kann mich selbst sehen, wie ich, ein geisteskrankes Mädchen, durch die Sonnenblumenfelder nach Saint-Ybars zurückwanderte, wo ich lebte. Ich zitterte so sehr, dass ich meinen Korb mit den wenigen Beeren und Kräutern darin kaum zu halten vermochte.
    Schließlich setzte ich mich auf einen Felsen und brach in Tränen aus.
    Seit meiner letzten Vision in Toulouse waren drei Jahre vergangen, und ich wusste ja, wohin mich damals die Madonna geführt hatte. Zuvor hatte sich mein Wahnsinn hauptsächlich auf die seherische Gabe beschränkt – wenn man es denn eine Gabe nennen kann, mit seinem kleinen Bruder am Tisch zu sitzen, ihn plötzlich für einen Moment mit zerschmettertem Schädel vor sich zu sehen und dies eine Woche später wirklich zu erleben. Der arme Guillaume, Gott hab ihn selig! Die Räder eines Fuhrwerks quetschten ihn zu Tode, genau wie ich es vorausgesehen hatte.
    Ich hatte dem Mönch von meinen Visionen erzählt, und er hatte gesagt, sie seien eine Sünde. Er war ein Priester, er musste schließlich über diese Dinge Bescheid wissen.
    Nachdem wir Toulouse verlassen hatten, glaubte ich, von meinem Wahnsinn und den ihn begleitenden Sünden befreit zu sein. Aber nun wurde ich wiederum von Heiligen verfolgt und ahnte, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Ich musste es jemandem erzählen! Vielleicht meiner Mutter? Sie war eine Heilerin und eine weise Frau. Vielleicht verstand sie mich und wusste, was zu tun war.
    Ich will Euch berichten, wovor ich Angst hatte, während ich auf diesem Felsen saß, zusah, wie die Sonne den Nebel auflöste, und ihre Hitze auf meinem Rücken spürte. Ich fürchtete, dass ich am Beginn eines langen Wegs in den

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