Die Novizin
ist schon spät.«
»Es ist unsere Pflicht vor dem Herrn.«
Raymond hub zu einem neuen Einwand an, besann sich dann aber offenbar eines Besseren.
»Falls Euch etwas an meiner Wertschätzung liegt, tut Ihr, was ich sage. Indem wir das Götzenbild verbrennen und den Baum fällen, bannen wir das Böse. Wenn doch nur alle Sünden so leicht auszurotten wären!«
Raymond erteilte die Order, und so geschah es.
*
Es bedrückt mich, wie hartnäckig sich fehlgeleitete Menschen der Finsternis verschreiben. Wenn sie sich doch nur für unseren Erlöser öffnen würden! Die Welt könnte errettet werden, und zahllose Seelen würden ihren Frieden im Himmel finden, statt zu ewiger Pein und Marter verdammt zu sein. Es ist mir ein Rätsel, warum die Menschheit diese einfache Wahrheit nicht zu begreifen scheint. Ich habe mich mein ganzes Leben lang bemüht, meinen Mitmenschen das Wort Gottes nahe zu bringen, doch sie haben sich häufig gegen mich gesträubt, als würde ich sie mit Schwertern, Lanzen und lodernden Fackeln bedrohen.
Der Teich der Madonna war nichts als fauler Zauber, ein heidnischer Schwindel. Ich verstand sehr wohl, warum die Leute diesen Ort für wundersam hielten, denn wie aus dem Nichts sprudelte Wasser zwischen den Felsen hervor. Der Teich wurde offenbar von einem unterirdischen Fluss gespeist.
Dass sich die Heilige Jungfrau der Tochter eines Steinmetzes enthüllt haben sollte und nicht einem gelehrten, spirituell gebildeten Mann, der eine solche Vision zum Wohle aller hätte nutzen können, strapazierte jedoch meine Gutgläubigkeit. Paulus erlebte eine Offenbarung auf der Straße nach Damaskus, und daraus folgte die Erleuchtung eines großen Mannes und die Gründung unserer Heiligen Kirche. Was wäre wohl geschehen, wenn der Herr sich stattdessen einer Schäferin gezeigt hätte?
Ich bin offen für alle Arten von Wunder, aber ein tiefes Gottvertrauen ist auf jeden Fall besser als jede Wundergläubigkeit. Der Herr mag manchmal in irdische Dinge eingreifen, aber das kommt äußerst selten vor. Glaube, Gelehrsamkeit und die sorgfältige Betrachtung der Evangelien erfordern Demut, im Gegensatz zu Schwindel und Betrug, die den Bauern auf dem Feld freilich ein außerordentliches Vergnügen bereiten. Für das einfache Volk sind daher die Reliquien gedacht, wie die Finger des Täufers und die Oberschenkelknochen des Heiligen Jakob.
Die Armen sehnen sich nach Wundern, doch der wahrhaft religiöse Mensch bezieht seine geistige Nahrung ausschließlich aus dem Glauben und dem Studium der Heiligen Schrift.
*
An jenem Tag war nichts zu sehen von den Volksmassen, die sich an Allerheiligen angeblich um den Teich der Madonna geschart hatten. Aber ich konnte feststellen, dass die Berichte, in denen von einer riesigen Menschenmenge die Rede gewesen war, der Wahrheit entsprachen. Die Brotkrumen und Knochen, die die Menschen zurückgelassen hatten, waren zum größten Teil von wilden Tieren gefressen worden, doch das niedergetrampelte Gras zeugte von Hunderten von Füßen, und der Boden rings um die Quelle war übersät mit Kerzenstümpfen.
Der Teich lag still und verlassen da. Die Gläubigen wurden an diesem Tag gewiss nicht vom Wetter abgehalten, denn es war klar und heiter. Vielmehr wollten sie zweifellos dem Blick des Inquisitors entgehen, solange die Heilige Kirche diesem Ort noch nicht ihre Approbation erteilt hatte.
Ich stieg von meinem Pferd und sah mich um. Auf dem Gras schmolz bereits der Raureif, doch der Boden war hart wie Eisen. Der Mont Berenger warf seinen Schatten über den Teich, doch nur zweihundert Schritte von unserem Standort entfernt brach die Sonne durch die Bäume. Ich spürte die Kälte tief in meinen Knochen, und mein Knie verursachte mir große Pein. Gepriesen seien unser Herr Jesus Christus und der Heilige Dominik dafür, dass sie mich Demut lehren!
Ich wanderte einmal um den Teich herum. Bruder Donadieu und der Seigneur folgten mir mit den Blicken. Das Wasser war schwarz und unergründlich. Ich entdeckte nichts Beachtenswertes, fühlte jedoch auch keineswegs die Gegenwart von etwas Heiligem. Im Gegenteil – ich war davon überzeugt, dass der Erzfeind mich beobachtete. Ich kannte ihn, kannte seinen Geruch.
Als ich hochschaute, erblickte ich eine Spalte, die sich ungefähr hundert Schritte über mir im Felsen befand. In dem Moment wusste ich, dass ich gefunden hatte, wonach ich suchte.
Ich rief mir die Berichte im Magazin des Bischofs von Toulouse ins Gedächtnis, die ich bei
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