Die Obelisken von Hegira
schenken, wenn wir auf komplizierte Philosophien, ganze neue Zweige der Naturwissenschaften und ausgedehnte, wichtige Literaturen stoßen. Jetzt aber müssen wir unbedingt erfahren, wie wir mit den Erstgeborenen verbunden sind und was für eine Art Welt Hegira ist. Mit diesem Wissen könnten wir beginnen, einen Sinn in unserer Existenz zu finden.“
Wie ein Wetterhahn zeigte Bar-Woten durch die Stellung seines Mundes und den Winkel seines Augenlides an, was er von Orshists Worten hielt. Ansonsten regte er keinen Muskel. Er erinnerte Kiril an eine Katze, die sich auf ihren nächsten Sprung konzentriert.
„Demnach werden wir in Gebieten beginnen, die wir auslegen können. Das führt uns zu diesem Punkt, zweihundert Kilometer vom Fuß. Wir werden auch Aufzeichnungen machen an der Spitze des Turmes selbst, nahe der schlafenden Sonnenquelle, aber dort verzichten wir vorläufig auf eine direkte Interpretation. Die Sprache scheint unverständlich zu sein, selbst in der Standard-Lautumschrift des Turmes. Zu jenem Ende hin spielen Zahlen eine große Rolle in der Sprache. Kurz gesagt, wir sind im Begriff, die gesamte Geschichte und sämtliche Leistungen und Errungenschaften der Erstgeborenen zu studieren, vielleicht bis hinauf in jene Zeit, da sie jenen unbekannten Akt vollzogen oder ein unbekannter Akt an ihnen vollzogen wurde, der uns hervorbrachte, die Zweitgeborenen.
Die Arbeitsmannschaften versammeln sich morgen früh. Komitees und Arbeiterbrigaden werden sich zur Verteilung der Nahrungsmittel und Unterkünfte in jedem Lager konstituieren. Längs der Küste werden Fabriken für den Straßenbau, den Wiederaufbau von Städten, die Herstellung von Grabemaschinen und die Verarbeitung von Rohmaterialien entstehen. Wir treten zu einer Arbeit an, die jeder Zivilisation auf Hegira zur Ehre gereichen würde!“
Eine nervöse Unruhe hatte Kiril befallen. Er konnte sich jetzt kaum mehr daran erinnern, wie Elena eigentlich aussah, und doch war er immer noch verpflichtet – fast gegen seinen Willen –, gemeinsam mit Bar-Woten und Barthel weiterzugehen. Viel lieber wäre er geblieben und hätte bei der Schriftauslegung geholfen, beim Auffinden und Entziffern und Aufzeichnen, denn der Geist dieses Tuns lag in seinem Blut, und zukünftige Abenteuer in unbekannten Landen schienen weit weniger anziehend. Seine Fäuste ballten sich, und er konnte die Gedankenstränge, die sich in seinem Kopfe verwirrt hatten, nicht wieder voneinander trennen.
20
„Kiril! Wacht auf!“
Der Mediwewaner kämpfte sich aus seinem Schlummer hoch und verspürte das vertraute Gefühl, sich nicht daran erinnern zu können, wo er war. Das Zelttuch über ihm und das dünngepolsterte Feldbett, das während der Nacht so weich und nachgiebig wie Stein geworden war, waren im Schlaf der Vergessenheit anheimgefallen, und jetzt wußte er nicht, was sie waren. Barthel kam durch die Klappe in das Zelt, stolperte über seine Kleiderrolle und packte ihn an der Schulter. Kiril rieb sich die schlafverklebten Augen und erkundigte sich, was eigentlich los sei.
„Sie haben den Bei festgenommen!“
„Wen?“ fragt er, immer noch benebelt.
„Den Bei! Sie haben Bar-Woten ins Gefängnis geworfen!“
„Warum sollten sie das getan haben?“ fragte er verdrießlich.
„Ich glaube“, setzte Barthel an, dann senkte er seine Stimme, weil andere im Zelt aufzuwachen begannen. „Ich glaube, er hat eine Frau aufgefordert, mit ihm Liebe zu machen – Aufforderung zur Prostitution, nennt man es hier nicht so? Er wurde bei irgendwelchen Behördenvertretern der Völker des Walls angezeigt, und die steckten ihn ins Gefängnis.“
„Kristos“, sagte Kiril, indem er seine Beine aus dem Feldbett schwang und seine bloßen Füße auf den festgestampften Lehmboden platschte. Der Boden war kalt. Hurtig suchte er nach seinen Schuhen.
„Wir sollten zum Kapitän gehen“, sagte Barthel. „Er ist unser Sprecher, bis die neuen Brigadenführer gewählt sind.“
„Ich weiß nicht“, murmelte Kiril und band seine Senkel zu. Dann merkte er, daß er seine Hosen nicht anhatte, und es kostete ihn doppelt so lange, sie über die Schuhe hochzuziehen und den Verschluß einzuhaken. Er suchte in der Gräue des frühen Morgens nach seinem Hemd und entdeckte es im Schmutz, wo Barthels Füße es von der Rolle hingetreten hatten.
Die Morgenluft war dunstig und trostlos. Gemeinsam marschierten sie über den felsigen Boden zum Verwaltungszelt. Um diese Zeit war noch niemand dort, und
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