Die Oder Ich
Das könne er bestimmt. Und die seien billig. Igitt, hatte Mutter immer gesagt, wir sind doch keine Itaker. Wir fressen keine Spaghetti und auch sonst keine Nudeln. Bei uns gibt es Fleisch und Gemüse, dazu Kartoffeln mit Soße. Und wie sollte er Sport treiben, wenn jede Bewegung Pein ist?
Kurbjuweit kniet vor dem Kühlschrank und räumt die Lebensmittel ein: Brot, Margarine, Mortadella, Streichleberwurst, Goudakäse. Schokoladenaufstrich und H-Milch kommen ins Regal. Er kocht nicht. Wer nur zweihundert Mark zum Leben hat, kann sich das nicht leisten. Außerdem hat ihm seine Mutter die Kocherei nicht beigebracht. Eines Tages habe er eine Frau, die ihm das Essen auf den Tisch stelle, wenn er abends müde von der Arbeit nach Hause käme. Aber so war es nicht gekommen. Er ist krank, arbeitslos, und geheiratet hat er nicht. Und Mutter ist jetzt tot. Der Abreißkalender fällt in seinen Blick. Kurbjuweit zieht sich an der Kühlschranktür hoch. Er dreht sich um und nimmt das letzte Wochenblatt vom Stapel auf dem Küchentisch. Mittwoch, 2. Juni. Das hat er vorgestern aus dem Briefkasten geholt. Dann ist heute der 4. Juni. Er reißt vier Blätter vom Kalender und hält sie in der Hand, liest die Bibelsprüche. Der letzte ist von Martin Luther und lautet: Es ist überaus gefährlich und schädlich, dass der Mensch allein ist. »Quatsch«, murmelt Kurbjuweit und zerknüllt das Blättchen. »So ein Quatsch!«
Vor fünf Monaten und elf Tagen hat er seine tote Mutter gefunden, als er montags nach der Arbeit heimgekehrt ist. Freitagmorgens hatte er sie verlassen, da war sie noch quicklebendig gewesen. Sie hatte ihm das Frühstück gemacht, ihm seine Stullen geschmiert und die Thermoskanne mit dem Kaffee bereitgestellt, zwei Buletten in die Schachtel gelegt, wie immer, bevor er zur Arbeit fuhr. Dreieinhalb Tage hat er sie allein gelassen. Vor dem Schlafzimmerfenster hat sie gelegen, zwischen Bett und Heizung, die Augen offen, der Mund ein verrenkter Krater, nichts Lebendiges mehr dran. Wenn das Leben raus ist, ist nur noch Tod da, der Leib hat mit Leben nichts mehr am Hut, nur noch Fleisch, das verwest. Die Luft hat süßlich gerochen, woher zum Teufel waren die dicken Brummer gekommen, noch dazu mitten im Winter, die Fenster waren doch zu gewesen! Alle Fenster, die Haus- und Balkontür, waren verschlossen – Brummer dürfte es nicht geben.
Einfach gestorben war Mutter. Ohne Vorwarnung. Und seitdem hat er ihr Schlafzimmer nicht mehr betreten und sie kein Frühstück mehr für ihn gemacht und nicht mehr für ihn gekocht. Ihr Essen hat ihm zwar selten geschmeckt, aber er wurde versorgt und hat nie was gesagt; was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Jeden Tag hat sie gekocht für ihren Horschi, obwohl ihr die Lauferei schwergefallen war. Wasser in den Beinen, mindestens vier Liter, hatte der Hausarzt gesagt und Entwässerungstabletten verschrieben, und deshalb hatte Kurbjuweit seiner Mutter einen elektrischen Kocher mit zwei Platten gekauft, in dem Elektroladen an der Hauptstraße, ein teures Teil, alles war teuer dort, die Halsabschneider nahmen es von den Lebendigen. In Hemmstedt war es bestimmt billiger, aber die Läden waren so riesig, da fand man nichts, und von allem gab es mindestens zehn verschiedene Ausführungen, wie sollte man sich da entscheiden, also war er in den Elektroladen in Hollenfleth gegangen, dort kannten sie ihn, den Horschi von den Baracken. Den Kocher hat er Mutter auf den Küchentisch gestellt, die Schnur mit Paketkleber, den er von Gummi-Walther hatte mitgehen lassen, auf dem Fußboden festgeklebt, damit sie nicht stolperte. Nun brauchte Mutter nicht mehr zum Herd laufen und davor stehen, nein, sie konnte auf dem Stuhl vor dem Küchentisch alles bequem im Sitzen erledigen, Zwiebeln und Kartoffeln schälen und Kohl schneiden und Rote Bete würfeln und Sellerie und Bohnen schnippeln und dabei auf die Töpfe aufpassen, alles im Sitzen. Auf das Gemüse hätte Kurbjuweit verzichten können, Gemüse mochte er nicht. Der Porree hatte alles verdorben. Nun lässt er nur noch Würstchen kommen, fünf Dosen die Woche, Bockwürste, die man kalt essen kann.
Kurbjuweit hat Hunger. Kurbjuweit hat oft Hunger. Eigentlich ist er immer hungrig und deshalb muss er viele Vorräte im Schrank haben, viele Dosen und viel Brot, und nachts, wenn er nicht schlafen kann, kommt es vor, dass er eine Dose Bockwürstchen auf einmal isst und die Mortadella dazu.
Er setzt sich an die dem Fenster gegenüberliegende Seite des
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