Die Oder Ich
Postbotin etwa? Einen Brief vom Rechtsanwalt kann sie doch unten in den Briefkasten stecken!
Er muss nachsehen. Kurbjuweit bringt ächzend die Beine zu Boden und öffnet die Tür.
Kevin.
»Was willst du?«, fragt Kurbjuweit barsch.
»Kann ich mal ku-kurz reinkommen?«, fragt der Junge hastig, mit einer Stimme, die so dünn ist wie das letzte Eis im Mai.
»Wieso denn?«
»Einfach mal reinkommen. Ich …, Onkel Volli ist da, und und …« Er drängt sich heran.
»Hat er dich wieder rausgeschmissen?«
Kevin nickt erleichtert und zeigt ein schüchternes Grinsen. Kurbjuweit tritt zurück und lässt es zu, dass Kevin die Tür ganz aufschiebt.
»Darf ich die T-Tür zumachen?«
Kurbjuweit antwortet nicht, der Junge schließt die Tür hinter sich. Blickt sich mit großen Augen um.
»Komm rein«, sagt Kurbjuweit erst jetzt und geht voraus in die Küche.
Was soll er mit diesem Knirps anfangen, der da auf Mutters Stuhl sitzt, die Hände unter den Schenkeln, die Beine baumeln lässt und sich ungeniert in der Küche umsieht?
»Willst ’n Kakao?«, hört Kurbjuweit sich fragen.
Kevin nickt heftig und schleudert seine Beine vor und zurück. »Papa darf gar nicht mehr wiederkommen«, sagt er.
»Wieso das denn nicht?« Manfred Thielpape war ein schmächtiger Mensch mit kurzen Armen und einem struppigen Kinnbart, der seine Schirmmütze verkehrt herum auf die strähnigen Reste seiner fettigen Haare setzte. Das Härteste an ihm war die Zigarettenbox in der Brusttasche. Er wog ungefähr halb so viel wie seine Frau und war schon lange arbeitslos.
»Onkel Volli hat gesagt, wenn Papa ihn noch mal beim Ficken stört, denn bricht er ihm alle Gräten.«
Kurbjuweit spürt, wie er rot anläuft, und es ist gut, dass er Kevin den Rücken zudreht, während er die Milch in den Topf gießt, um sie aufzuwärmen. »So, so«, sagt er nur. Obwohl er viel an solche Sachen denkt, kann er nicht darüber reden.
»Weißt du, was Ficken ist?«, fragt Kevin.
»Ich, ähh, also …«
»Das ist, wenn der Mann auf der Frau liegt und auf ihr rumwackelt, dann kriegen sie Kinder, das hat Marcel von oben erzählt, und letzte Woche, da ist Papa gekommen und in die Wohnung gegangen, er hat ja einen Schlüssel, und mich hatten sie rausgeschmissen, ich bin mit Papa aber wieder rein, und dann hat Papa die Schlafzimmertür aufgemacht und da hab ich gesehen wie Onkel Volli auf Mama lag und auf ihr wackelte, sein Hintern ging immer hoch und runter, so …« Kevin streckte seinen Arm aus und fuhr die Hand rauf und runter, »und beide hatten sie rote Köpfe, und als Papa angefangen hat zu reden, da hat Onkel Volli aufgehört zu wackeln und den Kopf gehoben und zu ihm gesagt, er soll abhauen und ihn nicht noch mal beim Ficken stören, sonst würde er ihm alle Gräten brechen, und dann hat er weiter gewackelt, so doll, dass er Mama wehgetan hat, weil sie hat gestöhnt vor Schmerzen und ganz doll mit den Beinen gezappelt, weil sie unter ihm rauswollte, und dann hat Onkel Volli noch mal aufgehört und mit einer Hand eine Faust gemacht zu Papa und ihn fies angegrinst, und dann hat er wieder weitergemacht und Mama hat wieder gestöhnt wegen der Schmerzen und wieder mit den Beinen gezappelt. Und dann hat Papa die Tür zugemacht. Ist stehen geblieben. Hat eine ganze Zeit nichts gesagt. Aber dann hat er mich gefragt, was er machen soll. Aber ich wusste das auch nicht.«
Der Kakao wird allmählich warm und Kurbjuweit überlegt, ob er etwas sagen soll.
»Und jetzt ist Papa ganz weg.«
»Wo ist er denn hin?«
»Weiß nicht. Onkel Volli wohnt ja bei uns. Bestimmt macht er das gerade wieder mit Mama. Er tut ihr immer weh, manchmal schreit sie sogar.«
Kurbjuweit nimmt zwei Tassen aus der Anrichte und gießt den Kakao ein. Kevin sitzt da und hat ein altes Gesicht. Er trinkt den Kakao, seine Beine schlenkern unter dem Stuhl.
»Bist du reich?«, fragt er.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Weil du dir die Sachen kommen lässt. Hab den Mann mit dem Karton gesehen. Mama geht immer einkaufen. Warum gehst du nicht einkaufen?«
»Weil mein Rücken kaputt ist. Ich kann nichts tragen.«
»Gar nichts?«
Kurbjuweit schüttelt stumm den Kopf.
»So alt ist Mama noch nicht.« Kevin schlenkert weiter die Beine. Es klappert davon an den Streben des Stuhls. »Wenn du willst, kann ich für dich einkaufen.«
Später, als Kevin gegangen ist, nachdem er Onkel Vollis Stimme auf dem Laubengang gehört hat, nimmt Kurbjuweit die leere Hälfte des letzten Zettels vom Zeitungsstapel und
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