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Die Oder Ich

Titel: Die Oder Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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vornehmen konnte; er hat immer nur gewartet, bis aus der Gegenwart der Brei der Vergangenheit geworden ist.
    Und er roch, dass es in der Küche stank, nach vergammeltem Essen, nach Schimmel, nach schlechter Luft, nach Tatenlosigkeit, nach Angst, nach dem dicken einsamen Kurbjuweit. Die Essigfliegen flirrten um den Abfall. Es war nicht gelüftet, auf dem Fußboden Staubnester, die Spüle voll mit schmutzigem Geschirr, die Fliesen klebten, sie schrien nach Wasser und Feudel.
    Und das Schlafzimmer! Wer hat schon ein Schlafzimmer, dessen Fenster niemals geöffnet wird, dessen Jalousien immer geschlossen sind? Wie sollte er das erklären? Und sein Bett, es musste neu bezogen werden, die alte Bettwäsche war grau und roch nach den Ausdünstungen seines Körpers, nach Schweiß, nach Albträumen, nach schlaflosen Nächten und Selbstbefriedigung.
    Am besten sah noch das Wohnzimmer aus, weil er es am wenigsten benutzte und weil die Sachen, die im Schrank stehen, hinter der Glasscheibe, auch bei anderen Leuten stehen könnten, auch wenn sie zu nichts nutze sind, auch wenn es zufällige Sachen sind, die zufällig in sein Leben geraten sind.
    Alles das sah Horschi Kurbjuweit am ersten Advent, denn schließlich hat er Augen im Kopf wie andere. Seine Wohnung war zugewachsen, als wenn Unkraut nacktes Land überwuchert, nur langsamer, jeden Tag ein bisschen, seit Mutter nicht mehr ist, er konnte nichts dagegen tun. Am ersten Advent hat er angefangen aufzuräumen und sauber zu machen, denn ein Beschluss kann nur leben, wenn er Kinder zeugt, sonst stirbt er. Der Staubsauger funktionierte noch, es waren auch noch genug Staubbeutel da. Unter der Spüle, wo er lange nicht hingesehen hatte, fand er Scheuermittel und einen brettharten Feudel.
    Und jetzt, am heiligen Nachmittag, sieht es so in seiner Wohnung aus wie schon lange nicht mehr, wenn man von Mutters Schlafzimmer absieht. Sogar Kevin hat gestern, als er den Einkauf gebracht hat, gefragt, ob einer aufgeräumt habe. Und Kurbjuweit hat geantwortet, so normal wie möglich: »Na, das muss auch mal sein.« So wie einer, der eine Zeit nicht dazu gekommen ist.
    Noch eine Stunde. Draußen wird es dunkel, obwohl es erst drei Uhr nachmittags ist. Eine verfrühte Silvesterrakete wird abgefeuert, es blitzt rot zwischen den Lamellen der Küchenjalousie auf.
    Horschi Kurbjuweit stopft sein Hemd in die Hose und wischt sich den Schweiß. Er überprüft die Temperatur, in der Küche hängt ein Thermometer am Fenster, einundzwanzig Grad. Ist das zu warm oder zu kalt? Soll er die Heizkörper aufdrehen oder nicht? Wenn man das nur wüsste. Er überlegt, ob er noch einmal duschen soll, aber dann findet er, dass es dafür zu spät ist, er wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab. Und dann stellt er den Kuchen, den Kevin ihm geholt hat, auf den Wohnzimmertisch, er hat sechs Mark gekostet, bei dem neuen Bäcker. »Kriegst du etwa Besuch?«, hat der Junge wissen wollen, aber keine Antwort bekommen.
    Kurbjuweit kocht Kaffee, so wie er sich das vorgenommen hat. Während der Kaffee durchläuft, kontrolliert er die Zimmer. Er geht auf und ab, mit steinernem Gesicht. Auf und ab.
    Noch eine halbe Stunde.
    Er zündet die vier Kerzen an, die Kevin besorgt hat. Auf einen Tannenbaum hat Kurbjuweit verzichtet, den kann er sich nicht leisten. Das wäre übertrieben.
    Endlich sitzt er nur noch da, hört auf das Ticken der Uhr und das Klopfen seines Herzens.
    Es klingelt.
    Kurbjuweit steht auf, geht mit leisen Schritten zur Tür und wirft einen Blick durch den Spion. Vor der Tür steht eine Schwarzhaarige. Sie steckt in einem Mantel, trägt einen Koffer in der Hand und hat ein bleiches Gesicht.
    Kurbjuweit öffnet.
    Die Frau tritt ein, mustert ihn mit einem geschäftlichen Blick, stellt ihren Koffer ab.
    »Tach«, sagt sie.
    »Tach«, sagt Kurbjuweit.
    »Der Mantel«, sagt sie, knöpft ihn auf, beginnt sich auszuschälen.
    »Natürlich«, sagt Kurbjuweit und greift nach dem Kragen des Mantels.
    Und nun sieht er es. Die Frau hat einen schmalen Hintern, er ist nicht breiter als der Speckring auf ihren Hüften.
    Dafür hat sie kräftige Schultern. Ein Bauch wölbt sich unter den Brüsten.
    »Wo gehen wir hin?«, fragt sie.
    Kurbjuweit zeigt in das Wohnzimmer, wo er den Kaffeetisch gedeckt hat. »Kaffee?«, fragt er.
    »Warum nicht«, antwortet sie. Sie hat ein Doppelkinn und ein fleckiges Gesicht, geschwärzte Haare, die ihr auf die Schultern fallen. Eine Zigarettenschachtel in der Hand, nimmt sie den Koffer und geht

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