Die Oder Ich
gewesen, was Kain zum Mörder gemacht habe, die mickrigen Widerwärtigkeiten des Alltags hätten Kain zermürbt, jahrelanges täglich mehrfaches Zusammenreißen habe er sattgehabt, und anlässlich der Opferarie sei ihm der Kragen geplatzt, so wie einem heute vom Schmatzen, dem Fußpilz, den Schuppen, dem Bauchfett, den verklumpten Socken, gelben Unterhosen und nicht fortgeräumten Zeitungen des Partners der Kragen platzen würde. Der kleine Alltagsärger brächte die Leute zum Scheidungsanwalt.
Während Schlüter seine ausufernde Bibelexegese betrieb, in der Hoffnung, nicht schon wieder Intimes aus Hollenfleth zu hören, starrte Melitta Thielpape ihn mit großen Augen an.
»Und danach«, fuhr der Anwalt fort, »geht’s im Fünfjahresrhythmus weiter.« In fünf Jahren werde sie ihren zukünftigen Exmann nicht mehr als Arschloch bezeichnen – »Pö, na und ob!« – und nach nochmals fünf Jahren, wenn sie wieder seit ein paar Jahren verheiratet sei – »Nie! Das schwör ich Ihnen, nich noch mal!« –, werde sie vergessen haben, weshalb sie sich von ihrem ersten Mann habe scheiden lassen. Und nach weiteren fünf Jahren …
»Was? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht. Und Fußpilz hat er gar nicht!« Melitta Thiepape nahm Anlauf und sprang über die Barrikaden.
Schlüter ließ sich zurücksinken. Wer voller Sorgen, Wut und Ärger war, musste sich aussprechen, einmal wenigstens den Mist abladen, auf Schlüters Karren. Da half kein Bibelkurs, natürlich nicht.
»Manfred Thielpape«, erklärte die Mandantin und hieb bei jedem Wort die Faust in die Luft, sei ein Versager auf ganzer Linie. Seit über zwei Jahren sei er arbeitslos, hocke zu Hause »und guckt mich mit’m Aasch nich mehr an.« Das Saufen habe er angefangen, und das könne sie ja überhaupt nicht ab, ihr Vater sei Alkoholiker gewesen, der habe die Mutter versohlt, jeden Samstag, wenn er voll war, gegen Alkohol sei sie allergisch, alles könne sie ab, nur keinen Alkohol, allein der Dunst nach Bier würde sie aggressiiiev machen, ganz abgesehen davon, was das für Geeeld koste, allein das reiche für eine Scheidung aus. Noch schlimmer sei aber, dass der Gatte, wenn er nüchtern war, nicht könne, und wenn er besoffen war, sie nicht wolle, das habe mittlerweile fataale Folgen. Jetzt rückte die Thielpape auf die Stuhlkante, legte den Kopf schräg und eine vertrauliche Hand kroch auf die Kante des Schreibtisches, sie senkte die Stimme bis zum Alt, »hier unten«, flüsterte sie rau, »hier unten rum«, sie zog einen Bogen mit der Rechten um ihre üppige Hüfte, habe sie immer so Schmerzen, so ziiiiehende Schmerzen, besonders im Liiiegen , und manchmal mitten in der Naaacht, sie habe deswegen den Hausarzt aufsuchen müssen, den Dr. Dewald, »der immer so im Gesicht zuckt, wissen Sie?« – Ach Gott, der Arme, dachte Schlüter, dem geht’s nicht anders, der hat noch größere Mülleimer. – und »Wissen Sie was?«, der habe sie untersucht und gesagt, er finde keine organischen Ursachen, aber nachdem sie ihm berichtet habe, dass der werte Gatte seine Pflichten vernachlässige, habe Dr. Dewald gesagt, jaha, oho, die Beschwerden seien Folge der Enthaltsamkeit, der Verspannung, die sich einstelle, sich nicht mehr löse, wenn, ja, wenn man es eben nicht, na ja, wenn die Frau eben nicht oft genug zu …, Schlüter wisse schon, jedenfalls komme das »von die Enthaltsamkeit. Und nun sein Se mal ehrlich, Herr Rechtsanwalt, das müssen Sie doch zugeben, dass das kein Zustand ist für ’ne normale Frau, oder? Was würde Ihre Frau denn sagen, wenn Sie …«
Schlüter machte ein neutrales Mhh. Was war schon normal? Dass man sein Triebleben vor fremden Leuten auf der Zunge führte? Oder das seiner Mitmenschen verbal befingerte? Er machte den Mund auf, wollte sich aus dem Sumpf, in den ihn diese übergewichtige Frau zerrte, aufs Trockene retten, zu den Generalia von Unterhalt, Sorgerecht, Hausratsteilung, Zugewinnausgleich und Versorgungsausgleich.
Aber es war zu spät. Frau Melitta Thielpape war schneller. Sie habe keine Lust mehr auf Enthaltsamkeitsschmerzen, setzte sie ihre Scheidungsrechtfertigungslitanei fort, wenn sie nicht mindestens, »na also, allerallermindestens« zwei Mal die Woche zu ihrem Recht komme, wenn sie nicht also …, sie klimperte mit den Augen, »na, Sie wissen schon«, kriege sie eben Enthaaaltsamkeitsschmerzen in der Beckengegend und das sei ja wohl ein verdammter Scheidungsgrund, das grenze an Körperverletzung, »oder was sagen
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