Die Operation
Internets und einiger Zeitungsarchive versucht herauszufinden, was genau sich eigentlich vor einem Dreivierteljahr in der Wingate Clinic abgespielt hatte. Sie hatte dabei packende, um nicht zu sagen beunruhigende Dinge erfahren.
Stephanie ließ den Laptop in die Mappe gleiten, griff nach der Plastiktüte aus der Buchhandlung und zog sich den Mantel an. An der Labortür schaltete sie das Licht aus, sodass sie sich praktisch blind den Weg quer durch den verdunkelten Empfangsbereich suchen musste. Auf der Straße angelangt, ging sie in Richtung Kendali Square, den Kopf gesenkt, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Seit dem frühen Nachmittag hatte sich das Wetter stark verändert - typisch für Neuengland. Jetzt kam der Wind aus Norden anstatt aus Westen, und die Temperaturen waren von milden acht, neun Grad bis unter den Gefrierpunkt gestürzt. Und mit dem Nordwind kamen auch die Schneeflocken, die jetzt die ganze Stadt wie mit Puderzucker überzogen.
Am Kendall Square stieg Stephanie in die rote U-Bahn-Linie stadtauswärts bis zum Harvard Square, der ihr von den Jahren an der Universität noch sehr vertraut war. Wie üblich war der Platz trotz des Wetters voll mit Studenten und anderen Leuten, die durch das Ambiente magisch angezogen wurden. Sogar ein paar Straßenmusiker trotzten dem rauen Wetter. Mit blau gefrorenen Fingern spielten sie den Passanten etwas vor. Sie taten Stephanie so Leid, dass sie auf ihrem Weg vom Harvard Square bis zum Eliot Square eine Spur aus Dollarscheinen in den umgekehrten Hüten hinterließ, die sie vor sich liegen hatten.
Als Stephanie die Brattle Street erreicht hatte, verloren sich die Lichter und das rege Treiben rasch. Sie kam an einem zum Radcliff College gehörenden Straßenzug sowie am berühmten Longfellow House vorbei. Aber ihre Umgebung ließ sie kalt. Stattdessen ließ sie sich die Erkenntnisse der vergangenen dreieinhalb Stunden durch den Kopf gehen und war gespannt, wie Daniel darauf reagieren würde. Außerdem wollte sie erfahren, was er selbst herausgefunden hatte.
Als sie schließlich die Eingangstreppe vor dem Haus mit Daniels Wohnung hinaufstieg, war es nach acht. Die Wohnung lag in der obersten Etage eines dreistöckigen Gebäudes aus der spätviktorianischen Zeit. Es war komplett restauriert worden, einschließlich des Fassadenschmucks und der fein gearbeiteten Giebelschnitzereien. Er hatte die Eigentumswohnung 1985 gekauft, nach seiner Rückkehr in den Schoß der akademischen Familie in Harvard. Das war ein wichtiges Jahr für Daniel gewesen. Er hatte nicht nur seinen Job bei Merck pharmaceuticals verlassen, sondern auch seine Frau, mit der er fünf Jahre lang verheiratet gewesen war. Er hatte Stephanie erklärt, dass er sich von beiden erdrückt gefühlt hatte. Seine Frau war Krankenschwester gewesen. Er hatte sie während seiner Assistenzzeit kennen gelernt, als er parallel zu den Diensten im Krankenhaus auch noch seinen Doktor gemacht hatte - ein Kunststück, das für Stephanie einem doppelten Marathon gleichkam. Er hatte Stephanie auch erzählt, dass seine Ex-Frau sehr schwerfällig war und dass er sich während der Ehe wie Sisyphus gefühlt hatte, der fortwährend einen Felsblock den Berg hinaufrollen musste. Und er hatte gesagt, dass sie zu nett gewesen war und dass sie von ihm das Gleiche erwartet hatte. Stephanie hatte nicht gewusst, was sie mit diesen Erklärungen anfangen sollte, hatte aber auch nicht tiefer gebohrt. Sie war dankbar, dass die beiden keine Kinder gehabt hatten, obwohl seine Ex-Frau sich anscheinend nichts sehnlicher gewünscht hatte.
»Ich bin’s!«, rief Stephanie, nachdem sie die Wohnungstür mit dem Hinterteil ins Schloss gedrückt hatte. Sie platzierte Laptop und Büchertasche auf dem winzigen Flurtischchen, schlüpfte aus dem Mantel und machte die Schranktür auf, um ihn aufzuhängen.
»Ist jemand da?«, rief sie mit gedämpfter Stimme, weil sie direkt in den Schrank hinein sprach. Als sie mit ihrem Mantel fertig war, drehte sie sich um. Sie wollte gerade noch einmal rufen, da tauchten plötzlich Daniels Umrisse vor ihr auf. Sie erschrak. Er war höchstens einen Meter von ihr entfernt. Mehr als ein Piepsen drang nicht zwischen ihren Lippen hervor.
»Es ist nach acht«, brachte sie schließlich heraus und schlug sich auf die Brust. »Schleich dich doch nicht so an!«
»Warum hast du nicht angerufen? Ich wollte schon die Polizei verständigen!«
»Ach, komm schon. Du weißt doch, wie es ist, wenn ich mal in eine
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