Die Opfer des Inzests
Beschreibungen von
Traumlandschaften vorbehalten sowie epische Berichte von Abenteuern am Ende der
Welt.
Und was die älteste betrifft, »Agnès
die Brave«, sie studiert Politikwissenschaften in Paris. Sie ist ganz verrückt
nach ihrem kleinen Bruder und kommt oft auf Besuch nach Hause, wo sie ihn dann
mit Küssen bedeckt.
In diesem Universum der Zärtlichkeit,
rundum in Watte gepackt, führt Éric das Leben eines kleinen Paschas.
Gleichzeitig frei und behütet. Seine Eltern, wohlhabende Kaufleute, nehmen sich
mit ihren 50 Jahren Zeit, ihn zu verhätscheln. Durch den Kleinen leben sie
außerdem ihre Zärtlichkeit gegenüber Igor und Agnès aus. Und so sind sie am
Boden zerstört, als sie eines Morgens ein Telegramm erhalten, in dem ihnen
mitgeteilt wird, daß Agnès einen schweren Unfall gehabt habe. Sie liege im
Krankenhaus und ihr Zustand sei sehr kritisch.
Eilig organisieren die Eltern ihre
Abreise nach Paris.
»Wir können dich nicht mitnehmen«,
erklären sie dem kleinen Jungen. »Das ist nichts für dich. Wir werden Tag und
Nacht an Agnès’ Bett sitzen, wenn es sein muß. Das alles ist zu tragisch für
ein Kind in deinem Alter. Das Krankenhaus, das Leid, das wäre ein zu großer
Schock für dich.«
Éric möchte protestieren. Er war noch
nie von seinen Eltern getrennt. Die bevorstehende Abreise der Eltern belastet
ihn ebenso wie das Unglück seiner Schwester. Aber er begreift, daß er seinen
Eltern in dieser traurigen Zeit keine Last sein darf.
Mit leiser Stimme und um einen festen
Tonfall bemüht, fragt er, den Blick auf die Schuhspitzen geheftet:
»Und... bei wem soll ich bleiben?«
Seine Eltern tauschen einen Blick.
Tränen in den Augen, völlig durcheinander und ganz verloren in ihrem Schmerz
scheinen sie keine Antwort zu haben auf diese ganz selbstverständliche Frage.
Der Vater reagiert als erster.
»Also, mal sehen... Deine Tante
Mathilde arbeitet viel und kommt zu spät nach Hause, um sich um dich zu
kümmern. Außerdem könntest du dann nicht in die Schule, weil sie am anderen
Ende der Stadt wohnt. Bei Anne und Philippe mit ihren vier Kindern ist es auch
so schon eng genug. Ich möchte sie nicht bitten, dich auch noch aufzunehmen.
Mir fällt nur mein Bruder Robert ein.«
»Nicht Onkel Robert, Papa! Ich mag ihn
nicht. Er ist sonderbar. Er macht mir angst. Außerdem hat er nicht einmal
selbst Kinder. Ich werde mich ganz allein bei ihm langweilen.«
»Sag so etwas nicht, Éric«, schimpft
sein Vater milde. »Er ist sehr lieb. Mach uns jetzt keine Schwierigkeiten, ich
bitte dich. Hilf uns. Tu es für uns und für deine Schwester. Ich hoffe, daß wir
bald wieder zurück sind und gute Neuigkeiten mitbringen, aber im Augenblick ist
das alles sehr schwer für uns, Éric...«
Seine Mutter sagt gar nichts. Wie in
Trance packt sie einige Kleidungsstücke in einen Koffer, mit zitternden Händen,
in Gedanken woanders.
»Also gut, wie ihr wollt«, murmelt
Éric.
Bei Onkel Robert nehmen sie hastig
Abschied. Als sie in ihren Wagen steigen, um zum Flughafen zu fahren, wirken
Papa und Mama sehr müde. Sie winken Éric, der sich zu einem Lächeln zwingt. Es
ist Mittag, die Sonne scheint. Noch nie war Éric so traurig.
»Komm essen. Ich habe zwar nicht mit
deinem Besuch gerechnet, aber ich werde schon etwas für dich finden«, grummelt
der alte Junggeselle und geht vor in die Küche.
»Mach dir keine Umstände, Onkel Robert,
ich habe überhaupt keinen Hunger. Später vielleicht. Im Augenblick habe ich
einen so großen Kloß im Hals, daß ich keinen Bissen runterbekommen würde. Tut
mir leid.«
»Wie du willst, Kleiner. Dann geh und
bezieh dein Bett. In dem Schrank im letzten Zimmer auf dem Flur findest du
Bettwäsche. Du kannst übrigens gleich dieses Zimmer haben.«
Éric ist es nur recht, sich dünne
machen zu können. Anstatt den innerhalb der Familie berühmt-berüchtigten Launen
dieses Mannes ausgesetzt zu sein, verschwindet er lieber auf dem dunklen Flur.
Und dabei haßt er dieses viel zu große Haus. Es war ihm schon immer zuwider
herzukommen. Bei den wenigen Gelegenheiten, da seine Eltern ihn an schrecklich
langweiligen Sonntagnachmittagen zu einem Besuch gezwungen haben, ist er nie
dazu gekommen, das ganze Haus zu erkunden. Onkel Robert schien sich nur in der
Küche aufzuhalten. Dort empfing er brummig seinen Besuch, bot ihm Kaffee und
Gebäck an und schien nur darauf zu warten, daß die lästigen Störenfriede wieder
verschwanden.
Im ganzen Haus riecht es muffig. Éric
stößt eine
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