Die Opfer des Inzests
Rettungsanker, als Zuflucht.
Sie wurde noch viel mehr: Freundin,
Adoptivmutter. Sieben Jahre lang waren wir unzertrennlich. Meine Eltern kamen
mich in großen Abständen besuchen, und ich verbrachte die Ferien bei ihnen. Ich
konnte ihr Ende kaum erwarten. Die Atmosphäre zu Hause war unerträglich. Meine
Mutter mußte ebenso große Angst haben wie ich, daß mein Vater wieder über mich
herfiel. Sie achtete entsprechend darauf, ihm keine Gelegenheit dazu zu geben.
Es hatte dieser tragischen Umstände bedurft, sie zu meiner Verbündeten zu
machen, wenn auch wider Willen.
In diesen langen Monaten half mir die
Gewißheit, Schwester Hélène bald wiederzusehen, durchzuhalten und mich in
Geduld zu fassen. Ich hinterfragte nicht, was mich mit ihr verband, bis ich
eines Tages auf der Treppe eine Unterhaltung zwischen der Mutter Oberin und
Schwester Hélène belauschte.
›Sie verbringen zuviel Zeit mit Gina‹,
hielt die Oberin ihr vor. ›Das ist Bevorzugung. So etwas lehne ich ab. Diese
Haltung könnte sie in ihren homosexuellen Neigungen bestärken, von denen ihre
Mutter mir erzählt hat.‹
›Homosexuelle Neigungen?‹
Die ungläubige Frage Schwester Hélènes
stellte ich mir selbst im selben Augenblick. Sie verunsicherte mich.
Kurze Zeit nach diesem Vorfall sagte
meine Freundin zu mir:
›Wir werden uns weniger oft sehen
können. Unsere Mutter Oberin möchte nicht, daß ich die anderen Schülerinnen
vernachlässige, indem ich zuviel Zeit mit dir verbringe.‹
Lächelnd fügte sie hinzu:
›Aber wir können uns ja heimlich
treffen.‹
Ich fühlte mich unbehaglich. Heimlich!
Wir taten doch nichts Schlimmes. Plötzlich hatte ich das Gefühl, unsere
Beziehung gründe nicht nur auf Freundschaft allein. Ich machte mir Vorwürfe.
Ich, die ich seit Jahren versuchte, die Schuldgefühle zu überwinden, die ich
bei der Erinnerung an den Vorfall auf dem Schiff empfand, betrachtete mich
plötzlich als durch und durch verdorben. Ich war wirklich unrein, soviel stand
für mich fest.
Erschüttert vertraute ich Schwester
Hélène an, weshalb ich im Kloster untergebracht worden war. Dann fragte ich:
›Das, was passiert ist, war das meine
Schuld?‹ Schwester Hélène hatte während meiner Erzählung kein Wort gesagt, aber
mir war nicht entgangen, daß sie blaß geworden war. Ihre Stimme klang gepreßt,
als sie mich fragte:
›Warum hast du mir das nicht schon
früher erzählt? Ich hätte dir helfen können. Es muß sehr schmerzhaft für dich
gewesen sein, dieses schreckliche Geheimnis all die Jahre mit dir
herumzutragen. Ich würde dich dieses Leid gern vergessen machen. Du hast es
nicht verdient, Gina.‹
Schwester Hélène umarmte mich,
streichelte meine Wange und mein Haar.
›Gar nichts ist deine Schuld. Ich
verspreche, daß ich dir helfen werde. Du kannst dich auf mich verlassene Das
war der Beginn einer Katastrophe.
Sofort stürzte sie ins Büro der Mutter
Oberin. Hinterher beschrieb sie mir die Szene.
›Mutter, ich habe Ihnen etwas sehr
Ernstes mitzuteilen.‹
›Sprechen Sie, da Sie es so eilig zu
haben scheinend Schwester Hélène berichtete ihr mit aller Entrüstung, derer sie
fähig war, von meinem Unglück.
›Ich bin über alles informiert,
erwiderte die Mutter Oberin eisig. ›Gina ist bei uns, weil sie solchen Unsinn
erzählt. Sie weiß seit langem, daß sie kein kleines Mädchen ist wie die
anderen. Sie hat sich immer zu anderen Mädchen hingezogen gefühlt, und um von
ihrer Neigung abzulenken, hat sie diese Geschichte erfunden. Wir dürfen uns von
ihr nichts vormachen lassen. Erst recht nicht Sie, Schwester Hélène. Sie ist in
Sie verliebt, das ist doch glasklar. Ich habe Sie ja gewarnt. Ich habe Sie
aufgefordert, sich von ihr fernzuhalten. Es ist eine schwere Verfehlung, daß
Sie mir nicht gehorcht haben, Schwester Hélène. Ich muß entsprechende
Konsequenzen daraus ziehen, die mir zwar widerstreben, die sich jedoch nicht
umgehen lassen. Wir werden uns von Ihnen trennen. Ich werde um Ihre Versetzung
aus disziplinarischen Gründen bitten. Es geht nicht anders. Sie werden dieses
Kloster verlassen. Und was Gina betrifft, wird sie bestraft werden dafür, daß
sie erneut versucht hat, ihren Vater in den Schmutz zu ziehen.‹
Während der drei Wochen ›Einzelhaft‹,
die man mir auferlegte, hatte ich genügend Zeit, über mich selbst nachzudenken.
In einem Zimmer eingesperrt, ohne Unterricht, Ablenkung, Speisesaal, bekam ich
nur eine Klosterangestellte zu Gesicht, die mir dreimal täglich
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