Die Opfer des Inzests
meine
Mahlzeiten brachte. Ich wußte damals noch nicht, daß Schwester Hélène bereits
weggeschickt worden war. An sie zu denken war mein einziger Trost.
Ja, ich liebte sie. Es stimmt, ich
empfand nur Abscheu für Männer. Wie hätte ich ihnen verzeihen können, meinem
Vater ähnlich zu sein? Die Erkenntnis drängte sich mir auf: nur bei Frauen
fühlte ich mich sicher. Mir wurde klar, daß ich nie wieder einem Mann
vertrauen, ihn achten, bewundern oder gar lieben könnte.
Mein Vater hatte mein Leben noch
gründlicher zerstört, als mir bis dahin bewußt gewesen war.
Als ich aus meinem ›Gefängnis‹
entlassen wurde und erfuhr, daß Schwester Hélène nach Straßburg geschickt
worden war, beschloß ich, davonzulaufen und Frankreich zu durchqueren, um zu
ihr zu gelangen. Der November ist nicht der ideale Monat, per Anhalter zu
fahren, aber ich bin einigen guten Seelen begegnet, die mir die Reise
beträchtlich erleichtert haben, indem sie mich in ihrem Wagen mitgenommen und
mir häufig auch eine Mahlzeit spendiert haben.
Als ich in der großen Stadt im Elsaß
eintraf, klingelte ich bei sämtlichen religiösen Einrichtungen.
›Ich suche eine Nonne mit Namen
Schwester Hélène. Ist sie vielleicht bei Ihnen? Ich möchte sie so gerne sehen.‹
Beim dritten Versuch bekam ich endlich
die Antwort, auf die ich verzweifelt gehofft hatte.
›Ja, wir haben hier eine Schwester
dieses Namens, kommen Sie herein. Sagen Sie mir Ihren Namen, und ich lasse sie
fragen, ob sie Sie empfangen möchte.‹
Ich unterdrückte einen Freudenschrei.
Ich würde sie wiedersehen! Mein Herz raste.
›Folgen Sie mir, mein Kind. Schwester
Hélène erwartet Sie.‹
Ich schwebte, ich flog.
Die Klosterpförtnerin führte mich in
eine kleine Kapelle. Die wenigen brennenden Kerzen vermochten die Dunkelheit
nicht zu verdrängen.
›Nehmen Sie in diesem Beichtstuhl
Platz.‹
Trotz meiner Verblüffung gehorchte ich.
Hinter der Gitterwand atmete jemand.
Hélène!
›Sag nichts, Gina. Laß mich dir
erklären, warum ich dich auf diese Weise empfange. Ich habe geschworen, dir nie
wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, als ich erkannte, daß
meine Berufung durch meine Gefühle zu dir gefährdet war. Ich glaubte dich zu
lieben wie die Tochter, die ich niemals haben werde, doch es war mehr als das.
Aber ich möchte mich Gott weihen, das ist meine Bestimmung: Nonne zu sein und
sonst nichts. Diese erzwungene Trennung hat uns beide gerettet, davon bin ich
überzeugt. Mir hat sie geholfen, klarer zu sehen. Du hast mir gefehlt. Du hast
mir viel zu sehr gefehlt. Ich habe noch rechtzeitig gehandelt. Du mußt es
genauso machen, Gina. Du mußt fort, es im Leben zu etwas bringen, um jeden
Preis, denn du hast es dir verdient.‹«
Gina ist nicht der Ansicht, es im Leben
zu etwas gebracht zu haben. Sie ist immer ein Außenseiter geblieben. Sie hat
nie ihren inneren Frieden gefunden. Ihr Vater hat, zumindest nach außen hin, in
Frieden gelebt, und das war ihm ja auch immer das Wichtigste — den Schein zu
wahren.
Als sie mir ihre Geschichte erzählt
hatte, konnte sie nicht anders, als abschließend hinzuzufügen:
»Du hast Glück, Nathalie, daß du 30
Jahre später geboren wurdest als ich. Die Zeiten haben sich geändert. Inzest
ist kein Tabuthema mehr. Du hast darüber sprechen und dich befreien können.
Kinderschändern wird der Prozeß gemacht.«
Ich habe ihr gestanden, daß sich in
bezug auf den Inzest die Zeiten leider kaum geändert haben. Das war weder ihr
noch mir ein Trost.
________Alexandra________
Wie könnte man auch nur einen
Augenblick glauben, irgend jemand könnte in einer inzestuösen Situation
glücklich sein?
Als meine Gespräche mit Alexandra
anfingen, ahnte ich nicht, wie sehr ihre Geschichte meine Zuhörer schockieren
und verunsichern würde.
Alexandra hat eine ebenso schmutzige
Geschichte erlebt wie Gina, Éric, Annie und so viele andere: Inzest. Aber
wenngleich der Inzest nur ein Gesicht hat, besitzt er sehr unterschiedliche
Züge, abhängig von den betroffenen Personen und den verschiedenen Situationen.
Von diesem Gesicht kennt man nur die
Härte. Den Sadismus, das Grauen. Das Gesicht des Inzests, dem Alexandra sich
gegenübersieht, ist lieb, sanft, voller Zuneigung. Und doch ist es eine
gräßliche Maske, die nur einem Zweck dient: der Vergewaltigung eines
schutzlosen Kindes.
Alexandra ist sich, so wie andere
Opfer, noch nicht im klaren darüber, daß sie mit einer Lüge lebt. Sie glaubt,
eine
Weitere Kostenlose Bücher