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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Liebesgeschichte zu erleben, sie glaubt, sie wäre glücklich. Sie irrt
sich, aber das ist nicht ihre Schuld. Die Vergewaltigung, der sie zum Opfer
gefallen ist, hat sich sehr sanft und ohne Gewalt abgespielt, ohne Erpressung,
ohne Schreie.
    Glaubte sie anfangs, das alles wäre
normal? Vielleicht. Aber ich weiß, daß das Ungeheuer eine hervorragende Taktik
angewandt hat, um sie zu verführen: Er hat sie manipuliert, sie verzaubert, mit
schönen Worten berauscht. Vielleicht hat sie irgendwann an sie geglaubt.
    Eins ist jedenfalls sicher: Alexandra
kann nicht so weiterleben, weil sie nicht so glücklich ist, wie sie vorgibt.
    Wenn ein Opfer ein Verbrechen dieser
Art anprangert, wird es allzu oft von Scham erfüllt. Es tut weh, sich zu
schämen; die inquisitorischen Blicke der anderen machen einem angst. Ist es da
nicht einfacher zu behaupten: »Ich lebe glücklich in dieser Beziehung mit
meinem Vater!« Man spricht nicht mehr von Vergewaltigung, sondern von Liebe...
Schluß mit der Furcht vor dem Morgen, Schluß mit der Scham.
    Rückblickend habe ich begriffen, daß es
vermutlich ein Hilfeschrei von Alexandra ist. Sie spielt die glückliche
Geliebte, in der Hoffnung, daß jemand angewidert aufbegehrt und versucht, sie
vor der Hölle zu retten.
    Hat sie eine solche Hilfe von außen
nötig? Leider bleiben meine Fragen in bezug auf Alexandra unbeantwortet.
    »Ich habe seit acht Jahren einen
Geliebten. Er ist mein Vater, und es ist alles bestens zwischen uns!« erklärte
Alexandra mir an einem Morgen im Mai.
    Erst hielt ich mir die Ohren zu, aber
dann erklärte ich mich doch bereit, diesem sonderbaren Mädchen zuzuhören, das
unbedingt wollte, daß ich seine Geschichte schön fand. Natürlich habe ich ihren
Enthusiasmus nicht geteilt. Was sie mir erzählt hat, ist für mich nur ein
weiterer Beweis dafür, daß der Inzest die abstraktesten Formen annehmen kann.
Das Monstrum ist zu allem fähig. Am extremsten manifestiert es sich, wenn es
wie im Fall Alexandras versucht, sich in aller Legitimität die strahlendsten,
zärtlichsten Gefühle anzueignen, die ein junges Mädchen seinem Vater ganz
selbstverständlich entgegenbringt. Sein Opfer ist doppelt Opfer, weil es von
der Richtigkeit dieser widernatürlichen Beziehung überzeugt ist.
    Alexandra behauptet glücklich zu sein
mit ihrem Vater als Liebhaber. Keine Abwehr, keine Abscheu. Kein Versuch, ihre
Integrität wiederzufinden. Ihre Euphorie im Hinblick auf ihre inzestuöse
Beziehung zu ihrem Vater stellt in meinen Augen eine große Gefahr für sie dar.
Ihre Geschichte hat mich mehr aufgewühlt als jede vorangegangene.
     
    Alles hat in einem Wartezimmer
angefangen.
    Einem etwas anderen Wartezimmer. Hier
findet kein geflüsterter Austausch über die jeweiligen Wehwehchen statt, die
Solidarität der Kinder, das Wetter oder den letzten Urlaub.
    In diesem Raum mit den Imitationen
mittelalterlicher Gravuren, die die Handwerkszunften von Paris darstellen, an
den Wänden sitzen wir zu einigen wenigen Mädchen mit angespanntem Gesicht und
gehetztem Blick. Wir halten uns gebeugt, eine Zeitschrift auf den Knien, und
tun, als würden wir lesen, um uns entspannt zu geben und vor allem jede
Unterhaltung zu vermeiden.
    Jede von uns wartet darauf, zum
Seelenklempner hereingerufen zu werden.
    Ob wir es wollen oder nicht, so ist das
nun mal: wenn Ermittlungen in einem Inzestfall aufgenommen werden, ordnet der
Untersuchungsrichter an, daß das Opfer von einem auf solche Fälle
spezialisierten Psychiater untersucht wird sowie manchmal noch zusätzlich von
einem Psychologen. Zwei Urteile sind wohl besser als eins.
    Wir, die Klägerinnen, empfinden diese
Praktik als eine weitere Prüfung. Die Zweifel an unserer Glaubwürdigkeit sind
die wohl verletzendsten. Weil wir nämlich hier sind, um unsere Unschuld zu
beweisen, zu beweisen, daß wir nicht verrückt sind, daß wir den Inzest
tatsächlich erlebt haben.
    Nach Gutachten und Gegengutachten wird
das Grauen, das wir durchgemacht haben, gemeinhin anerkannt. Es wird erklärt,
wir seien sehr labil, sehr gestört, und daß wir ganz sicher große
Schwierigkeiten haben werden, eines Tages zu heiraten und Mutter zu werden. In
ihrem Fachchinesisch ziehen die Gewissenstherapeuten einen roten Strich vor
unsere Zukunft. Für uns gibt es, wer wir auch sind, nichts zu hoffen außer
dauerhafter psychologischer Hilfe. Und so finden wir uns ein- oder zweimal
wöchentlich auf der Couch eines Psychotherapeuten wieder, dem wir von unseren
Seelenzuständen

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