Die Opfer des Inzests
berichten. Welche Hilfe läßt man uns tatsächlich zuteil werden?
Ich weiß es nicht. Es fällt uns schwer zu glauben, daß dieser Fremde, der uns
anhört, mit einem Zauberstab den abscheulichen Akt auslöschen kann, der uns zu
ihm geführt hat. Mit seinem Gefolge von körperlichen und seelischen Qualen. Und
doch reden wir, schütten wir unser Herz vor ihm aus. Der Schmerz bleibt, aber
vielleicht gelingt es uns irgendwann, ihn als Weggefährten zu akzeptieren.
Einen lästigen, allgegenwärtigen, vergiftenden Weggefährten. Einen
Zwangsgefährten.
Als ich an diesem Dienstag das
Wartezimmer betrete, begegne ich dem Blick eines Mädchens, von dem ich sicher
bin, es hier noch nie gesehen zu haben. Wir grüßen einander zurückhaltend mit
einem Blick, mehr nicht. Das ist schon viel. Im allgemeinen widerstrebt es den
Stammpatientinnen, sich anzusehen, sich zu grüßen. Wir wissen in etwa, warum
wir alle hier sind: Drogenprobleme, Jugendkriminalität, Inzest. Jede hat ihr
Päckchen zu tragen. Unnötig, es auszureizen, miteinander zu reden, sich darüber
auszulassen.
Aber dieses Mädchen ist anders als wir.
Wir tragen Leichenbittermienen zur Schau; sie strahlt. Mit hocherhobenem Kopf
scheint sie auf uns Würmchen herabzusehen. Unwillkürlich frage ich mich: »Was
macht die denn hier mit ihren glänzenden Augen und dem Strahlen auf dem
Gesicht? Was hat sie wohl zu erzählen? Was hat sie angestellt? Wie schafft sie
es, so gut damit fertigzuwerden? Was ist das für eine Tussi, die an einem Ort
wie diesem Frohsinn verbreitet?«
Der Seelenklempner reißt mich aus
meinen Gedanken. Er öffnet die Tür und ruft:
»Alexandra B.!«
Sie steht mit einem strahlenden Lächeln
auf. Als die gepolsterte Tür sich hinter diesem geheimnisvollen Mädchen
schließt, bleiben der Schwung ihres geblümten Kleides und das entschlossene
Klappern ihrer dünnen Absätze auf dem Parkett des Wartezimmers mir noch lange
im Gedächtnis haften, wie ein Traum, den man versucht zu entschlüsseln.
Einen Monat sehe ich Alexandra nicht
wieder. Aber ihr Gesicht verfolgt mich. Ständig habe ich ihr Lächeln vor Augen,
leicht, in der Luft hängend wie das der Katze in Alice im Wunderland.
Indem er meine Termine auf einen
anderen Wochentag verlegt, führt der Arzt uns unbeabsichtigt wieder zusammen.
An diesem Donnerstag bin ich allein im
Wartezimmer. Die Minuten verstreichen zäh. Endlos betrachte ich die Rosen in
der bizarren Vase auf dem niedrigen Tisch, inmitten der Zeitschriften. Es sind
keine makellosen Blumen ohne Domen, wie man sie im Blumenladen bekommt, sondern
ganz offensichtlich Rosen aus dem Garten. Drei Knospen mit verschrumpelten, an
den Rändern braun verfärbten und ungleichmäßig gezackten Blättern heben sich
von ihren erblühten Schwestern ab, die einen süßlichen Duft im Raum verströmen.
Ich stelle mir vor, wie unser Psychiater — vielleicht lebt er auf dem Land? — mit
kleinen Schritten durch einen Garten geht, eine Rosenschere in der Hand, um
eine duftende Ernte für seine Praxis einzubringen. Es sei denn, daß seine Frau
ihre diversen Rosenarten schneidet, gießt und pflegt, während er sich unsere
Leidensgeschichten anhört, daß sie ihm Sträuße zusammenstellt, damit er bis zum
Abend an sie denkt. Dieser Mann weiß alles von uns, und wir wissen nicht das
geringste von ihm. Diese Rosen verraten ihn ein wenig. So wenig.
An diesem Punkt bin ich gedanklich
angelangt, als sie hereinkommt: Alexandra! Sie trägt ein schwarzes Trägerkleid,
das ihre honigfarbenen Schultern zur Geltung bringt. Wie schön sie ist, und wie
wohl sie sich offensichtlich in ihrer Haut fühlt! Niemals würde ich es wagen,
zu meinen Terminen ein solches Kleid zu tragen! Aus Angst, der Psychiater
könnte mich als aufreizend einstufen. Aus Furcht, meinen befleckten Körper zu
zeigen. Aber das scheint Alexandras geringste Sorge zu sein. Das Gespräch mit
dem Psychiater scheint sie nicht im mindesten zu beunruhigen.
Sie hat ihr volles Haar hochgesteckt.
Ein Teil wird von einer Haarklammer gehalten, ein anderer fällt ihr in wilden
Locken um das Gesicht. Von der Sonne ausgebleicht, weisen die Strähnen die
verschiedensten Farbnuancen auf. Mich erinnern sie an reifen Weizen.
Alexandra hat sich die Lippen nicht
geschminkt. Sie hat sehr volle Lippen, die Mundwinkel deuten leicht nach oben.
Ein ganz natürliches Lächeln. Lidschatten hebt ihre grünen, strahlenden Augen
und deren aufreizende Fröhlichkeit hervor.
Wie alt mag sie sein? 16 oder 17... Ich
darf
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