Die Opfer des Inzests
mich nicht von ihrer geringen Größe und ihrem puppenhaften Aussehen
täuschen lassen.
Und jetzt wünscht dieses Mädchen, das
mir solche Rätsel aufgibt, auch noch freundlich guten Tag und lächelt dabei!
Ich erwidere den Gruß etwas zurückhaltend. Aber wenn ich mehr über sie erfahren
möchte, ist das der richtige Anfang.
Leider werde ich hereingerufen, um
meine Qualen analysieren zu lassen. Wir wechseln einen bedauernden Blick. Die
Vertraulichkeiten werden warten müssen.
Am folgenden Donnerstag ist sie schon vor
mir da. Bevor sie im Behandlungszimmer des Psychiaters verschwindet, flüstert
sie mir zu:
»Hier kommen wir nie zum Reden. Ich
warte im Café gegenüber auf dich. Komm nach, wenn du fertig bist, okay?«
Bei ihr dauert das Ganze eine halbe
Stunde. Ich muß eine volle Stunde die Hölle durchmachen. Hinterher, Tränen in
den Augen, völlig durcheinander, mein Innerstes nach außen gekehrt, hätte ich
meine Verabredung mit Alexandra beinahe vergessen.
Aber sie ist da, sitzt an einem Tisch
draußen auf der Terrasse des Cafés, das Gesicht genießerisch der Frühlingssonne
zugewandt. Ein Anblick, der mich von meinen inneren Qualen befreit. Auch ich
habe Lust, mich in der Sonne zu entspannen, mich von ihr wärmen zu lassen.
Ich lächle meine neue Freundin an:
»Eben hattest du noch keine
Sommersprossen. Sie sind in der Zeit, die du auf mich gewartet hast,
rausgekommen. Steht dir gut!«
»Findest du? Ich weiß nicht. Ich finde,
mit den Sommersprossen sehe ich aus wie ein kleines Mädchen. Das nervt. Aber
was soll’s, so ist das eben!«
Wir besprechen unsere kleinen
ästhetischen Probleme, als hätten wir sonst keine Sorgen. Als wären wir uns
nicht »drüben« begegnet, im Wartezimmer einer Praxis, in der wir, wie wir beide
sehr wohl wissen, Woche für Woche in den Scherben unserer Jugend wühlen.
»Hast du einen Freund?« fragt Alexandra
mich unvermittelt und mustert mich dabei eindringlich.
Ich hätte es vorgezogen, die Fragen
anzugehen, die mir auf der Zunge liegen: »Warum gehst du zum selben Arzt wie
ich?«, »Welche Geheimnisse lädst du bei ihm ab?«, »Warum berührt dich das alles
scheinbar so wenig?«...
Aber ich bin ihr doch dankbar, daß sie
der aufgesetzten Unbekümmertheit ein Ende macht, die wir bis dahin zur Schau
getragen haben, daß sie sich traut, dem banalen Gespräch ein Ende zu machen,
bei dem wir uns seit 20 Minuten im Kreis gedreht haben. Ich stammle:
»Ja, ich habe seit zwei Jahren einen
Freund. Das heißt, er ist mehr als ein Freund.«
»Dann ist es also ernst.«
»Das hoffe ich doch. Und du?«
Als ich diese zwei Worte sage, habe ich
das ungute Gefühl, ein Sesam-öffne-dich auszusprechen, das mir Zugang zu
verbotenem Terrain verschaffen wird. Zu etwas, woraus man nicht unbeschadet
wieder herauskommt. Was provoziere ich Vertraulichkeiten, die mich verletzen,
mich noch ein wenig mehr zerstören könnten?
Alexandra zögert:
»Ach, bei mir das ist eine lange
Geschichte...«
Ich könnte schwören, daß sie es kaum
erwarten kann, ihre Geschichte zu erzählen. Sie hat mich auf diesen Kurs
gebracht, und ich bin ihr brav gefolgt. Offenbar ziert sie sich nur der Form
halber ein wenig. Also hake ich nach:
»Willst du nicht darüber sprechen? Komm
schon, erzähl. Tu mir den Gefallen.«
Aber nein, Alexandra verschließt sich
wie eine Auster. Jetzt reden wir über unsere Studien, über Bücher, die wir
gelesen haben und über Filme, die wir uns gern ansehen möchten. Kein Wort mehr
von Beziehungen.
Ich bin nicht wirklich enttäuscht. Ich
zögere, die Geheimnisse meines Lebens diesem Mädchen anzuvertrauen, das ich
kaum kenne, und ich ziehe es vor, auch nicht in ihre Geheimnisse eingeweiht zu
werden.
Am folgenden Donnerstag finden wir uns
vor dem schon traditionellen Menthe mit Wasser wieder, nach einer Sitzung
intimer Geständnisse bei unserem gemeinsamen Psychiater. Hoppla! Alexandra
scheint diesmal weniger fröhlich.
Und tatsächlich, kaum haben wir
bestellt, sagt sie wütend:
»Warum hast du mir nichts gesagt?«
Ihre anklagenden Worte sind für mich
wie eine kalte Dusche. Ich überlege fieberhaft. »Was weiß sie von mir? Was hat
sie erfahren? Welches Geständnis versucht sie, mir zu entlocken?« Die Fragen
überstürzen sich. Ich wage mich vor:
»Was nicht gesagt?«
»Stell dich nicht dumm. Dein Buch! Du
hättest mir sagen können, daß du ein Buch geschrieben hast. Ich habe es heute
morgen in der Buchhandlung gesehen. So etwas ist doch wichtig genug, daß
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