Die Opfer des Inzests
Aber daß
du in deinem Alter immer noch bei dieser abscheulichen Täuschung mitspielst!«
»Urteile nicht zu schnell! Laß mich dir
erklären. Bei mir ist es anders. Mein Vater ist ein wunderbarer Mensch. Er hat
mich nie zu etwas gezwungen, mich nicht geschlagen. Ich habe dein Buch gelesen.
Es war richtig von dir aufzubegehren: Dein Vater hat dich mißhandelt. Meiner
tut das nicht, das kann ich dir versichern. Er ist sanft und zärtlich und vor
allem unglaublich komisch.«
»Aber Alexandra, es ist doch bekannt,
daß viele Männer, die sich des Inzests schuldig machen, die sanfte Masche
anwenden. Das sind die Schlimmsten. Sie schläfern ihr Opfer ein, lähmen seine
Abwehr. Sie sagen: ›Ich tue nichts Böses, weil ich keine Gewalt anwende.‹«
»Laß mich ausreden. Mein Vater ist
anders als die anderen. Wir haben uns schon immer besonders nahe gestanden. Als
ich noch klein war, hat er sich um mich gekümmert. Meine Mutter, die ständig
unter Depressionen litt, war in ihren Neurosen gefangen. Ich litt mit ihr und
fürchtete mich vor allem. Mein Vater machte mir Mut. Er war immer da, um mich
zu beschützen. Er war es, der mich abends ins Bett brachte und mir Geschichten
erzählte. Er half mir, meine Furcht vor der Nacht zu überwinden. Er war es, der
mich morgens für die Schule anzog. Wenn er mir über die Haare oder die Wange
strich, war ich überglücklich, erfüllt von Zärtlichkeit. Ich hätte alles für
ihn getan.«
»Und das hast du ja auch. Aber weißt
du, Alexandra, man braucht nicht mit seinem Vater zu schlafen, um ihm zu
beweisen, daß man ihn lieb hat. Es war ganz natürlich, daß dein Vater sich um
dich kümmerte, da deine Mutter dazu nicht in der Lage war. Es ist nur normal,
daß er dich getröstet, zu Bett gebracht und geküßt hat. Alle Väter kümmern sich
mehr oder weniger um ihre Kinder. Aber nur die abnormalen schlafen auch mit
ihnen. Entschuldige bitte meine Offenheit, aber wach endlich auf, Alexandra!«
»Mein Vater ist nicht ›abnormal‹. Wenn
du ihn kennen würdest, fändest du ihn super. Unsere Beziehung ist so intensiv!
Sie ist stärker als alles andere, glaub mir.«
»Dann hätten eure Gefühle euch schützen
und davor bewahren müssen, euch ins Unglück zu stürzen.«
»Aber das, was zwischen uns ist, ist
nicht schlecht. Und überhaupt, wenn jemand Schuld hat, dann ich. Mit 14 fühlte
ich mich unwiderstehlich zu meinem Vater hingezogen. Wenn ich aus der Schule
kam und ihn begrüßte, brachte mich seine Nähe ganz durcheinander. Es war ein
unbeschreibliches Gefühl. Abends, wenn er kam, um mir gute Nacht zu wünschen,
durchströmten Wellen wohliger Wärme meinen ganzen Körper. Ich sehnte mich
danach, daß er mich in die Arme nahm und lange, lange festhielt. Ich wünschte
es mir so verzweifelt, daß mir die Tränen in die Augen traten. Es war mehr als
Zuneigung, die ich meinem Vater entgegenbrachte, Nath, es war Liebe. Und er
hatte sie verdient.«
»Auch wenn du auf die falsche Bahn
geraten bist — was in der Pubertät vorkommt — wäre es die Pflicht deines Vaters
gewesen, dich auf den rechten Weg zurückzuführen.«
»Das hat er ja versucht. Ich bin
sicher, daß er sehr bald die Veränderungen an mir bemerkt hat. Und er hat mich
noch lange behandelt wie ein kleines Mädchen. Sein kleines Mädchen. Das machte
mich rasend. Meine Gefühle waren wie ein Wahn. Mal machten sie mich glücklich,
redselig, überschwenglich. Dann wieder zog ich mich in mich selbst zurück, in
ein so lastendes Schweigen, daß ich jeden Geschmack am Leben verlor.«
»Dein Vater hätte dich dazu bringen
müssen, einen Psychiater aufzusuchen. Ich sage es noch mal, für mich waren das
nur pubertäre Wirrungen.«
»Aber nein, Nathalie, es war viel mehr.
Es kommt sicher nicht oft vor, aber so ist es! Der Beweis ist, daß unsere Liebe
immer noch intakt ist, trotz der Jahre und der Prüfungen. Eines Tages hat uns
die Kraft unserer Leidenschaft überwältigt. Wir haben keiner Worte bedurft. Ein
Blick, und unsere Phantasien haben einander erkannt, akzeptiert, angezogen. Wir
haben uns geliebt, ganz natürlich. Es war echte, reine Liebe.«
»Erzähl mir nichts von Reinheit! So
etwas nennt man Inzest. Das ist gesetzlich verboten. Und noch lange nicht
streng genug!«
»Ich weiß. Aber das Gesetz müßte
Ausnahmefälle berücksichtigen.«
Alex macht plötzlich einen traurigen,
müden Eindruck. Weil es ihr schwerfällt, ihren Standpunkt zu verteidigen? Oder
weil der Mut, den sie aufgebracht hat, sich vor mir zu
Weitere Kostenlose Bücher