Die Opfer des Inzests
entblößen, sie erschöpft
hat? Nachdem sie mein Buch gelesen hatte, hatte sie geahnt, wie ich reagieren
würde; trotzdem hat sie sich getraut. Ein Freundschaftsbeweis? Oder will sie
ihre scheinbare Selbstsicherheit in bezug auf ihre Grenzsituation auf die Probe
stellen und auf diese Weise festigen?
Ist sie verunsichert? Ich nutze die
Gelegenheit, weiter vorzudringen. Um sie zu retten.
»Ich versuche, objektiv zu bleiben,
Alex. Ich würde dich ja gern verstehen. Aber das ist einfach unmöglich. Du
schneidest dich selbst vom Leben ab, vom Glück. Im übrigen hast du es selbst
gesagt: Ihr habt Probleme. Muß nicht immer ganz leicht sein, eure Situation.
Wenn du zum Psychiater gehst, bedeutet das wohl, daß alles rausgekommen ist. Irgendwann
wirst du begreifen, daß ihr, dein Vater und du, gegen die heiligsten
menschlichen Gesetze verstoßt, gegen die Grundregeln.«
»Das kümmert uns nicht! Es stimmt,
unsere Beziehung ist aufgeflogen. Meine Tante hat sich eingemischt. Sie war
entsetzt, so wie du. Und dabei wußte sie, wie nahe wir uns stehen. Sie hat uns
aufgefordert, Schluß zu machen, aber wir haben uns geweigert. Jetzt erpreßt sie
uns. Sie zwingt mich, den Psychiater aufzusuchen, um mich zu ›heilen‹, wie sie
sagt. Unter dieser Bedingung wahrt sie unser Geheimnis. Noch. Tatsächlich
glaube ich, daß sie vor allem verhindern will, daß alle mit dem Finger auf
unsere Familie zeigen. Sie ist überzeugt davon, daß ich meinen Vater früher
oder später aufgeben werde. Sie irrt sich. Wir werden kämpfen, mein Vater und
ich. Wir werden nicht zulassen, daß jemand unsere Beziehung zerstört.«
»Was für eine Beziehung, Alex? Nicht
einmal ein Tier begeht Inzest; sein Instinkt hält es davon ab. Deine Tante hat
recht. Sie will dich retten; hör auf sie. Komm zu dir. Dann bekommst du wieder
einen richtigen Vater, und sehr bald die Möglichkeit, schöne Liebesgeschichten
zu erleben. Willst du denn keine Jungen kennenlernen?«
»Andere Männer interessieren mich
nicht. Und dabei hätte ich Gelegenheiten genug.«
»Und du hast dich nie zu anderen
Männern hingezogen gefühlt? Du gestattest es dir nicht, das ist es. Oder dein
Vater erlaubt es nicht.«
»Aber nein! Verwechsle deine Geschichte
nicht mit meiner. Ich kann tun und lassen, was ich will, und ich fühle mich
wohl dabei. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen als das, was mich und
meinen Vater verbindet. Warum sollte ich mich anderweitig umsehen? Ein Junge
meines Alters könnte mich ganz sicher nicht reizen. Ich lebe unter idealen
Bedingungen, das kann ich dir versichern.«
»Nein, unter den schlimmsten! Er ist
dein Vater, Himmel noch mal! Das ist doch nicht normal!«
»Normal oder nicht, das ist mir gleich.
Wir sind glücklich und schaden niemandem. Also besteht kein Grund, etwas zu
ändern. Jeder hat das Recht auf Glück, gleich auf welche Weise er es findet.
Ich weiß, daß du Inzest unter entsetzlichen Bedingungen erlebt hast. Deine
Geschichte ist traurig, das gebe ich zu. Ich respektiere deinen Kampf. Warum
respektierst du nicht den meinen? Es war richtig von dir, dich für die Freiheit
zu entscheiden. Ich verlange, daß man mir die meine läßt.«
»Aber ist dir denn klar, was das für
dein Leben bedeutet? Du wirst dich immer verstecken müssen. Du wirst nie
Kinderhaben, kein Familienleben, keine Freunde. Du bist eine Außenseiterin.
Dein Vater könnte ins Gefängnis kommen, wenn eure Geschichte bekannt würde.
Entschuldige, wenn es dir hart vorkommt, aber meiner Ansicht nach müßte er
längst hinter Gittern sitzen.«
»Sag so etwas nicht. Und was meine
Zukunft anbelangt, habe ich nie behauptet, daß mein Vater der einzige Mann in
meinem Leben sein wird! Natürlich werde ich Kinder haben. Später... Ich habe
Zeit. Im Augenblick genieße ich kostbare Momente mit meinem Vater. Ich schmiede
keine Pläne. Ich lebe. Die Dinge werden sich von ganz allein entwickeln.«
»Du wirst deine Vergangenheit mit dir
herumschleppen wie eine Eisenkugel. Wenn du dich eines Tages in einen anderen
Mann verliebst, wirst du ihm dann gestehen können, daß du jahrelang mit deinem
Vater geschlafen hast und es dir Spaß gemacht hat?«
»Warum sollte ich ihm alles erzählen?
Man erzählt nie alles. Das Wichtigste ist, mit sich selbst im reinen zu sein.
Und das bin ich. Ich leide nicht. Ich fühle mich nicht verletzt und glaube
kaum, daß ich später an einem Trauma leiden werde, sei es auch nur unterbewußt.«
Die Würfel scheinen mir unwiderruflich
gefallen zu
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