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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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man
darüber spricht, oder? Ich dachte, wir hätten uns angefreundet. Du läßt mich
von Gott und der Welt erzählen, während es in deinem Leben etwas so Bedeutendes
zu berichten gibt! Ein Buch!«
    Seltsamerweise scheint Alexandra
weniger schockiert vom Thema meines Buches als von meiner Diskretion. Als hätte
ich in meinem Buch eine völlig banale Geschichte erzählt.
    Defensiv entgegne ich:
    »Ich habe nicht davon gesprochen, weil
es kein gewöhnliches Buch ist. Dann hätte ich dir auch erzählen müssen, daß in
meinem Leben ein Riesenchaos herrscht... Daß mein Vater mich von meinem
zwölften Lebensjahr an über Jahre vergewaltigt hat! Du hast das begriffen und
bist davon nicht erschüttert? Was bist du denn für ein Mensch?«
    Alexandra hört mir gelassen zu. Sie
wartet, bis ich mich wieder beruhigt habe, und sagt dann in möglichst neutralem
Tonfall:
    »Ich verstehe nicht, warum du ein
solches Drama daraus machst.«
    Ich denke: »In Ordnung! Sie versucht,
mich zu trösten.« Und doch, obwohl ich mir selbst einreden will, daß das der
Grund für ihre Ruhe ist, kommt mir ihre Haltung merkwürdig vor. Ich springe ins
kalte Wasser:
    »Du willst mir etwas zu verstehen
geben. Rede nicht um den heißen Brei herum. Spuck’s aus.«
    »Du wirst es vielleicht nicht
verstehen.«
    »Ach! Ich bin doch gar nicht so viel
anders als du, oder? Ich denke, ich bin in der Lage, verdammt viel zu
verstehen.«
    »Vielleicht eben nicht. Was, wenn ich
dir sage, daß auch ich eine sexuelle Beziehung mit meinem Vater habe und
glücklich bin, daß er mein Liebhaber ist?«
    Ein gähnender Abgrund tut sich vor mir
auf.
    Ich stehe schwankend auf und entfernte
mich wortlos von unserem Tisch. Ich fliehe vor dem Teufel. Mein Leben, dem ich
wieder einen Sinn geben wollte, das zu reparieren mir so schwer fällt,
explodiert in meinem Kopf. Mir ist schlecht, ich möchte mich verkriechen. Ich
möchte taub, stumm und blind werden. Ich fühle mich betrogen und zittere vor
Wut. Vor Ekel. Ich werde Alexandras Anblick nie wieder ertragen können.
    Ich gehe nach Hause, um mich unter die
Bettdecke zu flüchten, mich vor allem und jedem verstecken. Ich bekomme nichts
herunter außer einer Lexomil, die mich bis zum nächsten Morgen in traumlosen
Schlaf fallen läßt.
    Beim Aufwachen geht mir als erstes
dieser grausame, schmerzliche Satz durch den Kopf: »Mein Vater ist mein
Liebhaber, und ich bin glücklich darüber!« Stunden beherrscht der Satz meine
Gedanken wie ein Leitmotiv. Er wird mich nie wieder loslassen, wenn ich meine
Beziehung zu Alexandra dabei belasse. Ich muß mich bemühen, das Inakzeptable zu
verstehen. Um hoffentlich davon befreit zu werden. Und um vielleicht auch
diejenige zu befreien, die zu hassen ich einfach nicht fertigbringe, diese
Beinahe-Freundin, diese Beinahe-Schwester.
    Alexandra ist wie ich ein bewußtes
Wesen aus Fleisch und Blut. Sie hat sich getraut, mir ihre Situation und ihre
Gefühle zu gestehen. Vielleicht ist ihr scheinbares Glück nur eine Täuschung.
Vielleicht sitzt sie in der Falle und ihr Geständnis war ein Hilferuf.
    Ich nehme mir vor, der Konfrontation
mit Alexandra am kommenden Donnerstag nicht auszuweichen. Wenn nötig, werde ich
sie sogar provozieren.
     
    Leicht gesagt! Am Abend vor meinem
Termin beim Psychiater wird mir bereits ganz schlecht bei dem Gedanken an das
Wiedersehen mit meiner Pseudofreundin. Am Morgen bin ich nur noch ein Schatten
meiner selbst, und als ich sie vor unserem gewohnten Menthe mit Wasser sitzen
sehe, werde ich beinahe ohnmächtig.
    Und doch setze ich mich. Während ich
mich noch, die Kehle wie zugeschnürt, abmühe, mich an die Sätze zu erinnern,
die ich mir zurechtgelegt habe, um das Thema zur Sprache zu bringen, sagt
Alexandra mit sanfter Stimme:
    »Ich wette, du begreifst überhaupt
nichts von dem, was ich dir vergangene Woche gesagt habe. Wahrscheinlich bist
du sogar sauer auf mich, stimmt’s?«
    Ich greife nach der Rettungsleine, die
sie mir zuwirft: »Du glaubst, ich könnte böse auf dich sein? Dein Verhalten
wäre unverständlich? Verdammenswürdig? Es stimmt. Genau das denke ich. Aber ich
nehme mir nicht das Recht heraus, dir böse zu sein. Du tust mir leid. Du stehst
für das, wogegen ich seit Jahren ankämpfe. Mein Vater wollte dem Grauen, das er
mir auferlegt hat, den Schein der Normalität geben. Das hat mich noch mehr
verletzt. Es ist leicht, einem Kind seinen Standpunkt aufzuzwingen. Ein Kind
glaubt, daß Erwachsene immer recht haben, erst recht der eigene Vater.

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