Die Opferung
konzentrierte mich auf den Bereich nahe am Wasser, wo die Möwen hartnäckig kreisten. Ich sah Danny zwischen den Felsen und winkte ihm zu, aber er winkte nicht zurück. Stattdessen stand er in einer sonderbar gebückten Haltung da, wie erstarrt, die Fäuste geballt. Allmählich wurde mir klar, dass er dieses Geräusch verursachte. Er schrie!
»Danny!« Ich hechtete über die Mauer, die das Café umgab, und landete im Sand. Mit meinem Knöchel stieß ich gegen einen schlüpfrigen Felsen, fand dann aber mein Gleichgewicht wieder und sprang einer Gemse gleich von einem Fels zum nächsten. Zwischendurch glitt ich aus und trat in eine Wasserlache. Einmal fiel ich hin und zog mir eine Abschürfung an der Hand zu, aber dann hatte ich endlich ein ebenes Stück Strand erreicht und rannte in Richtung Meer. Das Wasser spritzte an mir hoch, während mein Herz raste und der Wind in meinen Ohren donnerte.
Danny stand neben einem flachen bräunlichen Felsen. Er schrie nicht mehr, aber sein Gesicht war noch immer angstverzerrt. Er musste mir gar nicht erst erzählen, was ihm solche Angst eingejagt hatte, ich konnte es mit eigenen Augen sehen. Ich schnappte mir Danny, nahm ihn auf den Arm und ging sofort durch den nassen Sand zurück in Richtung Promenade.
Liz war mir gefolgt und stand nach Luft schnappend vor mir. »Kannst du Danny zurück ins Café bringen? Ruf von Mrs. Kembles Apparat die Polizei an.«
»Was ist passiert?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
»Es ist Mrs. Kemble«, sagte ich.
Ich setzte Danny ab, Liz nahm ihn sofort an die Hand. »Daddy«, sagte er jämmerlich.
»Ich weiß, Danny«, sagte ich. »Ich sehe nur nach, ob ich noch irgendetwas mitnehmen muss, bevor die Flut kommt. Danach komme ich sofort ins Café zurück.«
»Ist sie tot?«, fragte Liz mit gesenkter Stimme.
Ich nickte. »Dauert nicht lange.«
Widerwillig ging ich zurück zu den Felsen. Der Wind riffelte das klare Meerwasser, das gerade begonnen hatte, sich wieder voranzukämpfen. Über mir kreischten die Möwen. Mrs. Kemble lag auf dem Rücken, sie war nackt, abgesehen von der zerrissenen Strumpfhose, die bis zu ihren Knien heruntergezogen worden und voller Sand und Tang war. Ihre Kopf lag in einer flachen Aussparung eines Felsens, ihr graues Haar war strähnig und nass wie ein Mopp. Ihre dünnen Unterarme waren beide angewinkelt, als würde sie noch immer versuchen, sich gegen jemanden zur Wehr zu setzen. Ihre Haut war weiß und vom Meerwasser aufgeschwemmt.
Am schlimmsten aber war, dass sich die Krebse an ihr zu schaffen gemacht hatten. Ich hatte schon den einen oder anderen Heilbutt gesehen, der von Fischern zu lange im Netz gelassen und von Krebsen angefressen worden war. Aber ich hatte mir nicht vorstellen können, wie brutal Krebse einen menschlichen Körper angreifen konnten. Mrs. Kembles Gesicht war von einem kleinen grünen Taschenkrebs, der jetzt mit ihrer Augenhöhle beschäftigt war und bereits ihre Lippen und ihre rechte Wange zur Hälfte aufgefressen hatte, in eine geisterhafte Karikatur verwandelt worden. Mrs. Kembles dritte Zähne waren zu einem gespenstischen Grinsen freigelegt worden.
Sie hatten auch ihren Bauch aufgerissen, sodass die gesamte Bauchhöhle nur noch eine zappelnde Masse aus zahllosen kleinen Taschenkrebsen war, deren Schalen und Scheren wie Kastagnetten unablässig gegeneinander schlugen. Einige Krebse krabbelten bereits durch die zur Hälfte weggefressene Öffnung zwischen ihren Beinen und bearbeiteten das zarte weiße Fleisch ihrer Schenkel.
Meine Kehle schnürte sich zu, in meinem Mund sammelte
sich warmes bitter schmeckendes Lager. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, wie Mrs. Kemble ums Leben gekommen sein mochte. Die Taschenkrebse hatten schon zu viel weggefressen. Noch während ich daneben stand, bahnte sich einer von ihnen den Weg aus ihrem Mund heraus, um sich mit zwei oder drei anderen um die gräuliche Haut ihres Zahnfleischs zu streiten.
Ich sah mich um. Die Flut hatte bereits eingesetzt, das Meer begann wieder, das Land für sich zu beanspruchen, und spülte Schaum und Treibholz und regenbogenfarbene Ölflecken an den Strand.
Von Mrs. Kembles Kleidung war nichts zu sehen, auch nicht von ihrer Handtasche. Nichts, was der Polizei einen Hinweis daraufgeben konnte, wie sie ums Leben gekommen war. Ich überlegte, ob ich ihre Leiche weiter auf den Strand ziehen sollte, aber ich wusste, dass ich mich nicht überwinden und sie anfassen konnte. Außerdem hätte ich auf diese Weise jede
Weitere Kostenlose Bücher