Die Opferung
leise ins Schloss, damit Danny nicht hörte, dass ich wegging.
Wenn man den Großteil seines Lebens in dem 24-stün-digen Verkehrslärm von London oder Brighton verbracht hat, dann können Städtchen wie Bonchurch in der Nacht beunruhigend still sein. Auf der anderen Seite kann man aber auch höchst unerwartete Geräusche wahrnehmen, die so klingen, als stürze eine tote Eule durch die Zweige eines Baums zu Boden und reiße dabei vertrocknetes Laub mit. Ein Krachen und Knacken, Büschel von Federn und Fell.
Ich lief dicht an der Mauer entlang, die zum Dorfladen führte. Ich drehte mich nur einmal nach Fortyfoot House um, konnte aber hinter den Tannen nur die buckligen, verwinkelten Umrisse des Dachs sehen, das von hier aus wiederum völlig anders wirkte, fast so, als habe es mir den Rücken zugewandt. Ich hatte noch niemals ein Haus gesehen, das eine so düstere und wechselhafte Persönlichkeit besaß. Es kam nie zur Ruhe. Es war immer in Bewegung und - soweit man das von einem Haus denn behaupten konnte - zu den hässlichsten Dingen fähig. Manche Häuser sind angenehm und bequem und tun ihren Bewohnern nichts. Aber im Fortyfoot House blieb ich ständig am Treppengeländer hängen, ich riss mir die Haut an überstehenden Nägeln auf, ich stieß mir den Kopf an Tür-und Fensterrahmen. Selbst wenn Harry Martin durch einen Unfall ums Leben gekommen sein sollte, war das nur ein Beispiel für die Aggressivität des Hauses.
Ich versuchte mir einzureden, dass uns keine Gefahr drohe und dass Geister nicht gefährlicher seien als Erinnerungen. Aber eine tief sitzende Furcht sagte mir, dass ich mir etwas vormachte - oder dass eine finstere und übellaunige Macht mir etwas vormachte.
Der Dorfladen war gerade im Begriff zu schließen, als ich ankam. Der Ladenbesitzer trug Kisten mit Gurken und neuen Kartoffeln in sein Geschäft und schien nicht besonders erfreut, mich zu sehen. Der Laden war nur schlecht beleuchtet und roch nach Waschpulver und Cheddarkäse. Ich ging zum Weinregal und entschied mich für eine große Flasche Piat D'Or.
»Es geht also mal wieder los«, bemerkte der Besitzer, während er meinen Wein einpackte. Im Licht der Neonröhren glänzte sein mit Pomade zurückgekämmtes graues Haar.
»Bitte?«
»Sie sind doch der junge Mann, der im Fortyfoot House arbeitet, oder?«, fragte er.
»Ja, das stimmt.«
»Das passiert immer, wenn die Leute versuchen, dem Haus beizukommen.«
» Was passiert immer?«
»Unfälle, Pechsträhnen. So wie beim armen alten Harry Martin.«
»Nun, ich muss zugeben, dass es eine gewisse ... Atmosphäre besitzt.«
»Atmosphäre?«, erwiderte er. »Keine zehn Pferde würden mich in das Haus kriegen. Das kann ich Ihnen sagen. Nicht mal hundert Pferde.«
Während er den Preis in die Kasse tippte, warf ich einen Blick auf die Straße. Es war schwierig, klar und deutlich zu sehen, weil mein Abbild und das des Ladens sich in der Schaufensterscheibe spiegelten, aber ich glaubte, eine Gestalt in braunem Umhang und mit brauner Kapuze in Richtung Fortyfoot House eilen zu sehen. Der Vikar konnte es nicht sein, dafür war die Gestalt zu klein, außerdem hatte sie sich mehr wie eine Frau bewegt. Irgendetwas an ihr erinnerte mich auf eine unbehagliche Weise an Liz.
»Warten Sie einen Moment«, sagte ich zu dem Händler und ging nach draußen. Die Gestalt hatte sich bereits etliche Meter auf der Straße weiterbewegt und wurde fast von der Dunkelheit verschluckt.
Doch als ich auf die Straße trat, drehte sie sich kurz um, und ich konnte ein blasses Gesicht sehen. Ich war nicht sicher, aber sie sah so sehr nach Liz aus, dass ich rief: »Liz! Liz?«
Doch die Gestalt drehte sich nicht noch einmal um, sondern lief weiter, bis sie mit der Dunkelheit eins wurde.
Ich ging zurück ins Geschäft, wo der Ladenbesitzer mit meinem Wechselgeld und völlig desinteressiertem Gesichtsausdruck auf mich wartete. »Kann ich jetzt schließen?«, fragte er.
»Tut mir Leid«, entschuldigte ich mich. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, den ich kenne.«
Er erwiderte nichts, folgte mir aber auf dem Fuß zur Tür und schloss sie ab, sobald ich das Geschäft verlassen hatte. Ich drehte mich im Weitergehen um und sah, wie er dastand und mich beobachtete. Sein Gesicht war zur Hälfte verdeckt von einem Schild mit der Aufschrift Sorry, wir haben geschlossen! Auch wenn Sie Brooke Bond Tea haben möchten! Seine Augen glänzten hinter seinen Brillengläsern wie gerade geöffnete Austern.
Ich ging durch die
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