Die Orangen des Präsidenten
erlaubt hatte, in andere Länder zu reisen, gab den Leuten nun Pässe, und Sami hatte diese Möglichkeit ausgenutzt und war für einige Monate in verschiedene benachbarte Länder gereist.
Am Tag seiner Rückkehr, als er von meiner Anwesenheit in Nasrijah erfuhr, besuchte er mich und stand plötzlich vor mir in meinem Dachzimmer. Er sprach mir sein Beileid zum Tod meiner Mutter aus und entschuldigte sich, dass er wegen seiner Reise nicht an den Trauertagen hatte teilnehmen können. Ich wusste nicht, was ich diesem erwachsenen Mann sagen sollte. Er benahm sich, als kenne er mich schon ewig.
»In welchen Ländern warst du denn?«, fragte ich ihn.
»Über Jordanien bin ich in mehrere Golf-Staaten gereist. Es war schön. Aber ich konnte nicht so besonders viel unternehmen und musste arbeiten.«
»Was denn?«
»Ich habe dort verschiedene Taubenzüchter getroffen. Wir wollten ein Lexikon erstellen: Lexikon der Tauben. So etwas gibt es noch nicht in der arabischen Welt. Es gibt zwar haufenweise alte Bücher über Tauben, aber keine Lexika.«
»Das klingt aber komisch: Lexikon der Tauben!«
»Ja, die Tauben haben ihre eigene Welt, die man kennen muss, um diese klugen Vögel wenigstens ansatzweise verstehenzu können, denn sie sind kompliziert wie die Menschen. Dein Vater hat sich gut ausgekannt mit Tauben.«
»Aber mein Vater war kein Taubenzüchter!«
»Muss einer ein Fußballer sein, um die Fußballregeln zu kennen?«
»Nicht unbedingt!«
»Na also, dein Vater wusste viel über Tauben, obwohl er kein Taubenzüchter war. Razaq ebenso! Kennst du ihn?«
»Nein!«
»Aber er kannte deinen Vater. Ein echter Taubenwissenschaftler. Du musst ihn kennenlernen. Er ist ein toller Mensch. Er sitzt jeden Nachmittag in meinem Café. Weißt du, wo das ist?«
»Nein!«
»Frag im Vogelbasar nach dem Taubencafé oder Samis Café! Du wirst es schnell finden. Ich muss jetzt gehen. Bis bald.«
Wenn man im Vogelbasar nach Sami fragte, wusste jeder Bescheid. Er war in Nasrijah bekannter als der Bürgermeister. Er war der Pate der Taubenzüchter, nicht nur ein Taubenkenner, sondern auch der Besitzer eines der bekanntesten Cafés in der Stadt: des Taubencafés. Es war ein kleines Café mit einem großen Ruf, immer voll mit Kunden, vorwiegend Taubenzüchtern aus Nasrijah.
Sami soll meinen Vater wirklich gut gekannt haben. Die beiden waren zusammen zur Schule gegangen. Nach dem Abitur mussten sie aber unterschiedliche Wege einschlagen. Die Bildungsbehörde verteilte die Abiturienten auf verschiedene Universitäten des Landes. Mein Vater bekam eine Zulassung der Universität Bagdad, Sami von der Universität Mosul im Norden. Sami schrieb sich dann aber doch nicht an der Universität ein. Er blieb in Nasrijah, wollte nicht studieren.
»Warum?«, fragte ich ihn einmal.
»Ich bin für ein Studium nicht geeignet.«
Sami freute sich, mich in seinem Café zu sehen, und wirwurden schnell gute Freunde. Durch ihn lernte ich etwas ganz Besonderes: Ich konnte meinen verstorbenen Vater neu kennenlernen. Oft hatte ich das Gefühl, mein Vater und Sami seien ein und dieselbe Person.
»Du bist deinem Vater nicht ähnlich. Weder äußerlich noch innerlich. Dein Vater war ein sehr ruhiger Mensch. Du bist anders, glaube ich. Was willst du eigentlich werden?«
Ich wusste wirklich noch nicht, welchen Beruf ich ergreifen wollte. »Lehrer vielleicht«, sagte ich. Und dann fügte ich noch die zwei Wörter hinzu, die ich in solchen Fällen gern verwendete: »Keine Ahnung!« Und lächelte.
Er überlegte kurz: »Aber du und Muhsin, ihr habt doch etwas Gemeinsames: dasselbe Lächeln. Er hat immer viel und sehr laut gelacht. Du bist genauso.« Ob das zutrifft, kann ich nicht beurteilen, weil ich mich an meinen Vater nicht gut erinnere.
Sami behandelte mich wie seinen eigenen Sohn, als wäre ich adoptiert. Und ich habe es zugelassen. Er lud mich oft zum Essen in seine Zweizimmerwohnung ein, in der er allein lebte, und kochte dann für mich. Er konnte hervorragend kochen und hatte überraschend viele Kochbücher in seiner kleinen Küche. In seinem Wohnzimmer aber fand sich nur Literarisches und Historisches. Drei Bücher waren besonders auffällig hingestellt, die Sami – wie er mir begeistert erklärte – am liebsten mochte:
Das Halsband der Taube
von Ibn Hazm Al-Andalusi, die
Enzyklopädie der Brüder der Reinheit
und ausgewählte Gedichte von Al-Mutanabbi. Außerdem zahlreiche Fotos von verschiedenen Vögeln und zwei Bilder von Männern mit Flügeln.
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