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Die Orangen des Präsidenten

Die Orangen des Präsidenten

Titel: Die Orangen des Präsidenten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbas Khider
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Einer soll Ikaros geheißen haben, er sah kräftig aus. Ein junger alter Grieche, klärte mich Sami auf, der für sich zwei Flügel angefertigt und versucht hatte, damit aus dem Gefängnis zu fliehen. Er flog tatsächlich, aber nicht sehr lange. Er kam der Sonne zu nah, und das Wachs, mit dem die Federn zusammengehalten wurden, schmolz. Er stürzte ins Meer und ertrank.
    »Dieser Ikaros ist mein Urgroßvater«, scherzte Sami.
    »Und der da, ist der deine Urgroßmutter?«
    »Nein. Der ist auch mein Urgroßvater. Aus dem arabischen Raum. Sozusagen der arabische Ikaros. Er heißt Abbas Bin Firnas. Hast du diesen Namen schon mal gehört?«
    »Ich glaube schon. In der Schule. Ich erinnere mich aber nicht, was er getan hat. Auch geflogen?«
    »Ja.«
    »Auch aus dem Gefängnis? Und auch gestorben?«
    »Nein. Er wollte einfach nur fliegen. Vielleicht ein Hobby. Er hatte zwei Flügel aus verschiedenen Federn angefertigt, stellte sich ans Ufer eines Flusses und flog los. Ja, und der Rest ist klar. Oder?«
    »Gelandet im Himmelreich. Komm bitte nicht auf die Idee, deinem arabischen und griechischen Urgroßvater folgen zu wollen.«
    Sami lächelte: »Keine Angst. Ich bin nicht verrückt genug, um so eine Heldentat zu riskieren.«

    Sami gab mir nach einer Woche einen Schlüssel zu seinem Haus. Er erlaubte mir, bei ihm zu übernachten. Ich wohnte seitdem fast immer bei ihm und übernachtete nur noch selten bei meinem Onkel.
    Mit seinem langen Gesicht, seinen schwarzen, tiefen Augen, die eine gewisse Trauer ausstrahlten, seinem dünnen Körper und mit dem linken Bein hinkend, war Sami ein Geheimnis für mich. Ich wusste nicht einmal, woher er kam. »Nasrijah ist mein Geburtsort und mein Grab«, antwortete er immer, wenn ich ihn fragte. Wenn ihn aber ein Fremder fragte, antwortete er: »Ich komme aus dem Nichts.« Er redete nicht gern über sich. Hatte er keine Familie, oder eine, die er nicht mochte? Er war nicht wie die anderen Männer als Soldat im Irak-Iran-Krieg gewesen. Sein behindertes Bein bewirkte, dass er nicht eingezogen wurde. Diese Behinderunghatte er seit seiner Kindheit. »Ohne sie wäre ich bestimmt als Leiche an der Front geendet.«
    Sami, der aus dem Nichts gekommen ist, soll in den achtziger Jahren zwei Mal geheiratet haben. Seine Frauen verließen ihn aber. Warum, darüber wollte er nicht gern sprechen. Man munkelte, seine Behinderung beträfe nicht nur sein Bein, sondern auch seine Potenz. Aber niemand wusste Genaueres. Ich meinerseits glaubte dieses Gerede nicht, weil ich genau wusste, dass er fast jede Woche ins Freudenhaus ging. Er war gut bekannt mit allen Huren der Stadt, das bestätigte auch sein bester Freund Razaq.
    Sami lebte also seit Langem allein und war damit zufrieden. Er arbeitete viel und kam immer spät heim. Wir verbrachten den Freitag zusammen, wenn das Café geschlossen war. Wir unternahmen Ausflüge in die alte Stadt oder ins Zentrum und gingen oft zum Vogelbasar. Oder wir hockten neben dem Taubenschlag auf dem Dach.
    Ich fühlte mich wirklich wie sein Sohn, mochte ihn jeden Tag mehr und nannte ihn »Onkel«. Er erlaubte mir alles, was ich wollte, gab mir sogar häufig Taschengeld. Aber nicht direkt. Meist versteckte er es in der Nacht, wenn ich schlief, unter meinem Kopfkissen. Wenn ich ihn fragte, ob er das gewesen sei, antwortete er gelassen: »Nein!« Und lachte. »Gott liebt dich. Er schickt dir Geld vom Himmel. Du musst ihn fragen, welcher Engel es unter deinem Kopfkissen versteckt hat!«

Neuntes Kapitel
Laternen
1990–1991
    Obwohl es viele Gefangene gab, war die Dusche nicht oft besetzt. Immer, wenn man unter der Dusche stand, bekam man Hunger und Kreislaufprobleme. Es war auch gar keine richtige Dusche, nur ein Wasserhahn im Klo, der mit einem kurzen Gummischlauch verbunden war. Und der spendete nur kaltes Wasser. Bei uns unter der Erde war es aber sowieso immer kalt.
    Ahmed duschte sich einmal fast eine halbe Stunde lang. Als wir in die Zelle zurück mussten, sagte er, ihm sei schwindelig. Adnan schimpfte ihn aus, weil er so lange unter der Dusche geblieben war. Ahmed schlief dann tief und fest. Als man ihn aufwecken wollte, um gemeinsam das Abendgebet zu sprechen, lag Ahmed wie ein Stein auf seinem Platz, tot.
    Ahmed fehlte jedem in unserer Zelle. Seine schöne Stimme war plötzlich nicht mehr da. Er hatte immer gern Bittgebete oder Suren aus dem Koran vorgetragen. Ich kannte ihn eigentlich nicht sehr gut. Ich wusste aber, dass er nicht aus Nasrijah, sondern aus Tell-Al-Lahm

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